Federpenal, Trinkflasche und Jausenbox sind die Basics in der Schultasche – seit heuer gehört auch der Mund-Nasen-Schutz dazu. Regelmäßiges Händewaschen, Klasse lüften bei kaltem Wetter mit Winterjacke und Abstand halten sind die neue Normalität an den Schulen. Viele Eltern sind erleichtert, dass ihre Kinder wieder in die Schule können. Trotzdem bleibt die Sorge vor erneuten Schulschließungen, Schichtbetrieb im Klassenraum oder davor, dass die Schüler wieder auf Distance-Learning umstellen müssen, wie es diese Woche vor allem in Salzburg und Tirol der Fall war. Noch einmal, so der Tenor unter Eltern, lässt sich das kaum mehr stemmen.

New York auf 82 Quadratmetern

Die aus Afghanistan kommende Familie Noori lebt in einer Gemeindewohnung in Wien-Donaustadt. Ludmela Noori und ihr Mann Abdel Wase teilen sich mit ihren vier Kindern 82 Quadratmeter inklusive kleinem Balkon. Ein separates Arbeitszimmer gibt es nicht. Der Familiencomputer steht im Wohnzimmer auf einem weißen Schreibtisch. Ein heißbegehrter Platz bei den Nooris. "Den brauchen wir alle", sagt die Mutter. Hier machte die 52-Jährige während des Corona-Lockdowns ihre täglichen Kurse für den Pflichtschulabschluss, die Kinder erledigten ihre Schulaufgaben. Es ist derselbe Raum, in dem die Eltern in der Nacht auf der ausgezogenen Couch schlafen. Hinter dem Schlafsofa vermittelt eine Panoramawand mit dem Bild New Yorks eine Weite, die der Wohnung fehlt. Die beiden anderen Zimmer sind von den vier Kindern belegt.

Ludmela und Abdel Wase Noori mit Tochter Neda im Wohnzimmer: In der Gemeindewohnung verbrachte die sechsköpfige Familie den Lockdown.
Foto: Sara Brandstätter

Untertags wird im gemütlichen Wohnzimmer gemeinsam ferngesehen, gelernt, gespielt und gegessen. Besonders während des Lockdowns ab Mitte März war es der Lebensmittelpunkt der 2008 eingewanderten Familie. Während die Vierfachmama ihren Unterricht absolviert hat, betreuten die beiden 22-jährigen Söhne Eraj und Bezhan und der Vater den achtjährigen Sohn Armin, der Autismus hat, und die elfjährige Tochter Neda. Vater Abdel Wase besucht seit einem Jahr eine Schulung beim AMS für Änderungsschneiderei.

Sprachschwierigkeiten

Nicht immer sind Informationen zu Covid-19 für die Eltern verständlich. Bei den Schulschließungen im März half der ältere Sohn Eraj, der an der TU Wien studiert, seinen Eltern beim Übersetzen. Und er begleitete seine Mutter bei Schulbeginn im September zum Elternabend. Dass Sprach- und Verständnisprobleme zu noch größeren Ängsten führen können, beobachtet auch die Volksschuldirektorin der Halirschgasse im 17. Bezirk, Bettina El-Ansari-Girakhoo: "Wir arbeiten mit unserem Elternverein daran, mehrsprachige Infos zur Verfügung zu stellen." Das sei sehr aufwendig und sollte idealerweise direkt von den Behörden zentral angeboten werden. Laut Integrationsbericht hat etwas mehr als die Hälfte der Wiener Schülerinnen und Schüler eine nichtdeutsche Umgangssprache.

Ludmela Noori wurde beim Arbeiten am Familiencomputer häufig von ihrem Sohn Armin unterbrochen, der Unterstützung oder Beschäftigung brauchte.
Foto: Sara Brandstätter

Lernen am Esstisch

Auf der anderen Seite von Wien, im 14. Bezirk, lebt die vierköpfige Familie Neumaier: Ihr 140 Quadratmeter großes Einfamilienhaus steht inmitten eines gepflegten Gartens. Schwierig war die Heimbetreuung aber auch dort. In der Zeit der Ausgangsbeschränkungen waren die Eltern Christian und Cornelia im Homeoffice. Als freie Werberin hat Cornelia Neumaier von neun bis 18 Uhr gearbeitet, manchmal länger: "Ich habe Glück gehabt, weil es von Kundenseite viele Aufträge gab. Ich konnte mich aber wenig um die Kinder kümmern." Das übernahm ihr Mann, ein Beamter, der sich seine Arbeitszeit im Homeoffice etwas flexibler einteilen konnte. Am Vormittag lernte der Vater gemeinsam mit Clemens (sieben) und Chiara (14) am Esstisch im Wohnzimmer, am Nachmittag gab es Freizeit.

Ihren Garten haben Cornelia Neumaier, ihr Mann Christian (nicht auf dem Foto) und die Kinder Clemens und Chiara im Lockdown besonders schätzen gelernt.
Foto: Sara Brandstätter

Das Gefühl von Unsicherheit und Verwirrung kennt auch Familie Neumaier seit Beginn des Lockdowns. Cornelia fühlt sich von der Politik oft im Unklaren gelassen. "Ich will eine Informationspolitik und keine parteipolitischen Scharmützel, ein 'So machen wir’s', ohne mich danach fragen zu müssen: Und was heißt das jetzt für uns?" Dafür sei die Zusammenarbeit mit der Schule gut gelaufen. Die Elternvertreterin der Volksschulklasse informierte über eine Whatsapp-Gruppe, im Gymnasium der Tochter Chiara kamen die Infos über Onlinekanäle.

Diese Möglichkeit zur Vernetzung gab es für Ludmela Noori und ihre Familie nicht. Rückblickend hätten sie während des Lockdowns gerne Betreuung in der Schule in Anspruch genommen. Von der Regierung wurde aber kommuniziert, dass dies nur für Eltern mit systemrelevanten Berufen möglich sei. Manche Kindergärten und Schulen verweigerten deshalb die Aufnahme. Das Gesundheitsministerium stimmte aber letztlich mit der Kritik der Arbeiterkammer überein, dass eine Ablehnung rechtlich gar nicht gedeckt sei. Wie die Betreuung jetzt aussehen würde, sollte es entgegen politischer Ankündigungen wieder zu Schulschließungen kommen, ist weder den Nooris noch den Neumaiers klar.

Cornelia Neumaier konnte ihren Arbeitsplatz im Homeoffice ab und zu auf die Terrasse verlegen.
Foto: Sara Brandstätter

Elternrolle total überlastet

Auch von wissenschaftlicher Seite wird die Doppelbelastung für Eltern seit Beginn der Pandemie kritisch beobachtet. Frauen sind besonders gefordert – das belegt eine laufende Studie der Soziologin Ulrike Zartler von der Universität Wien. Unbezahlte Betreuungsarbeit üben großteils Frauen aus, an der traditionellen Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen hat Corona nichts geändert. Zartler dazu: "In den Familien wurden unter extrem schwierigen Bedingungen unglaubliche Leistungen vollbracht. Eltern waren Spielpartner, Kindergartenpädagogen und Lehrer." Das sei besonders problematisch bei Familien, die im Normalmodus schon belastet waren, darunter Alleinerzieherinnen, Familien mit vielen Kindern und wenig Wohnraum oder jene, in denen es finanzielle Probleme gibt.

Bei ihren Interviews hätten Familien davon berichtet, dass Kinder angefangen hätten zu bettnässen, schlafwandeln oder schlecht zu träumen. "Stirbt die Oma, wenn ich sie besuche?", sind Sätze, die von verängstigten Kindern stammen. "Die Wertschätzung der Politik gegenüber den Leistungen der Eltern fehlt", kritisiert Zartler. Es brauche langfristige Konzepte für die Kinderbetreuung. Viele Eltern hätten auch Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie sich freinehmen müssen, um ihre Kinder zu betreuen: "Eltern brauchen Sicherheit in Hinblick auf Sonderbetreuungszeiten." Einen Rechtsanspruch darauf gibt es nämlich nicht.

Panik vor Halsweh

Cornelia Neumaier spricht sogar von Panik, wenn sie an die Wintermonate denkt. Seit Schulbeginn hatte ihre Tochter zweimal Halsschmerzen und blieb deshalb zu Hause. "Ich kann aber weder mich noch die Kinder permanent rausnehmen, 1450 anrufen (telefonische Gesundheitsberatung, Anm.) und sie alle zehn Tage in Heimquarantäne stecken. Ich fühle mich alleingelassen von der Regierung." Neumaier wünscht sich zumindest schnelle und kostenlose Tests für Schulkinder, um Ansteckungen zu verlangsamen und Schulschließungen vorzubeugen.

Eine Fast-Lane, eine Bevorzugung von Schülerinnen und Schülern bei den Corona-Tests, forderten Elternvereine von Wiener Volks- und Pflichtschulen schon länger. Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) und die Stadt Wien setzten zunächst auf Gurgeltests an Wiener Schulen. Elternobfrau der Volksschule Halirschgasse, Yvonne Skala-Holzhammer, ist damit nicht zufrieden: "Auch bei Gurgeltests dauert es zu lange, bis ein Ergebnis da ist. Eltern, deren Kinder zu Hause Symptome entwickeln, und nicht während des Schulbesuchs, müssen trotzdem 1450 anrufen." Am Donnerstag kündigten Faßmann und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) schließlich eine Änderung der Teststrategie an – hin zum verstärkten Einsatz von deutlich schnelleren Antigentests, zunächst in Pilotprojekten.

Hoffnung auf normalen Schulstart

Den ganzen Sommer lang hofften die Nooris und Neumaiers schon auf einen regulären Schulstart. "Das erste Mal, dass ich mich auf die Schule gefreut habe", sagt auch Chiara Neumaier, die nun endlich wieder mit Mitschülern und Lehrern diskutieren kann. Mit einem mulmigen Gefühl hat ihre Mutter allerdings Chiaras siebenjährigen Bruder Clemens zur Schule geführt: "Was müssen diese armen Kinder durchmachen?" Als Clemens aus dem Auto ausgestiegen ist und weg war, brach sie in Tränen aus. Beim Abholen ist ihr "der Kleine" aber lachend entgegengelaufen: "Auch er ist einfach froh, dass er seine Freunde wiedersieht", so Neumaier.

Trotz aller Überforderungen der letzten sieben Monate haben beide Familien die Zeit des Lockdowns und danach über die Runden gebracht. Um die Monate bis hin zu einer Corona-Impfung durchzuhalten, fordern die Eltern aber zumindest umfangreiche und klarere Informationen durch Regierung und Behörden – und vor allem geöffnete Schulen. (Sara Brandstätter, 23.10.2020)


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