Morgendliche Essensausgabe der Caritas: Viele haben gedacht, dass sie darauf nie angewiesen sein würden.

Foto: Andreas Urban

Mitte März war der Ofen aus. Als der Lockdown die Wirtshäuser zum Schließen zwang, landete auch Anna vor der Tür. Seither müsse sie jeden Cent zusammenkratzen, um ihre drei Kinder durchzubringen, erzählt die gelernte Köchin, mehr gäben Arbeitslosengeld und Mindestsicherung nicht her. Und ein neuer Job? "Keine Chance."

Damit sie über die Runden kommt, stellt sich die Alleinerzieherin einmal die Woche vor einem Sechzigerjahre-Bau mit futuristischem Betonturm an. Jeden Donnerstagmorgen verteilt die Caritas hier, am Vorplatz der Pfarre Gartenstadt in Wien-Floridsdorf, Lebensmittel zum Schnäppchentarif. Schon eine Stunde vor Öffnung haben sich die ersten Kunden mit Trolleys hinter Corona-bedingten Kreidelinien am Gehsteig postiert; dass die Zutrittsmarken nach Zufall und nicht nach Reihenfolge verteilt werden, hat sich noch nicht herumgesprochen. Anna ärgert sich: "Ich war eine der Ersten und habe nur Nummer 30."

Dann, um 9.30 Uhr, geht es endlich los. Wer noch keinen Bezugsausweis hat, muss erst seine Notlage nachweisen, außerdem gilt es, den "Solidarbeitrag" zu bezahlen: vier Euro für ein Lebensmittelpaket, sechs Euro für zwei, wie sie Familien ab zwei Kindern zustehen. Pro Ration sind grosso modo 13 Kilo vorgesehen.

Eine Ladung für drei Tage

Nach einem Zwischenstopp bei einem Aufpasser mit Desinfektionsspray – "Bitte Maske über die Nase ziehen!" – wartet Station eins der Ausgabe. Freiwillige Helfer verteilen hier, was Supermärkte und Erzeuger an abgepacktem Essen überlassen haben. Die Basisausstattung bietet an diesem Morgen, in leichter Variation, Nudeln, Brot, Aufstriche, Konservenfisch, Joghurt, Pudding, Tomaten oder Mais in der Dose. Extras gibt's bei Bedarf obendrauf – solange der Vorrat reicht. Fleisch und Eier etwa sind immer knapp, die von McDonald's sackerlweise gelieferte Grillsauce entpuppt sich hingegen als Ladenhüter.

"Haben Sie vielleicht Katzen?", fragt einer der Verteiler mit einem Charme, der jedem Greißler der alten Schule Ehre machen würde. "Oder darf's ein Strudel ein?" Kundin Elli nimmt dankend an und ergattert obendrein noch die letzten drei Eier, ehe sie – Station zwei – zum Stand mit Obst und Gemüse weiterzieht. Ganz könne die Essensausgabe den Besuch im Supermarkt nicht ersetzen, erzählt die 28-Jährige Mutter zweier Kinder, denn manche Basics wie Öl oder Milch gebe es nie. Doch was vorhanden ist, sei in der Regel tipptopp – und drei Tage komme ihre Familie mit einer Ladung schon aus.

Schon ein paar Cent sind zu viel

Elli, derzeit in Karenz, ist noch nicht lange Kundin, der erste Besuche kostete sie viel Überwindung. Pünktlich zum Lockdown hat ihr Mann den Job als Kellner verloren, ein halbes Jahr kam die Familie halbwegs durch. Das erhöhte Arbeitslosengeld habe ebenso geholfen wie der Familienbonus, sogar der Vermieter zeigte sich kulant. Aber wenn der Partner hunderte Euro weniger als früher nach Hause bringt und die Fixkosten fast das ganze Einkommen fressen, gehe es sich irgendwann nicht mehr aus: "Da spürt man es bereits, wenn die Preise im Supermarkt um ein paar Cent steigen."

Schlange stehen für 13 Kilo an Lebensmitteln für vier Euro: "Die Armut rückt bedrohlich in die Mitte der Gesellschaft."
Foto: Andreas Urban

Jede Menge neue Gesichter haben die Mitarbeiter der Wiener Caritas, die unter dem Label LeO – Lebensmittel und Orientierung – zwölf Ausgabestellen betreibt, seit dem Ausbruch der Krise registriert. Neben den Langzeitklienten tauchten immer mehr Menschen auf, die eben noch fest im Berufsleben standen. Viele hätten nie gedacht, dass sie einmal auf eine Hilfsorganisation angewiesen sein würden, sagt Caritas-Präsident Michael Landau: "Die Armut rückt bedrohlich in die Mitte der Gesellschaft."

Caritas warnt vor Pandemie der Armut

Landau nimmt einen neuen Anlauf, um der Regierung ins Gewissen zu reden. Eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes, das hierzulande mit 55 Prozent des Nettolohnes ein zu niedriges Niveau biete, fordert er und eine Aufstockung der Sozialhilfe, etwa der Basisleistung von derzeit 917 auf 1.000 Euro. Vor einer "Pandemie der Armut", warnt Landau, niemand dürfe im Winter vor eine unzumutbare Wahl gestellt werden: Heizen oder Essen.

Abdul würden höhere Leistungen helfen, denn Hoffnung auf einen Job hat er wenig. Bis zur Krise habe er bei einem Sicherheitsdienst im Spital gearbeitet, erzählt der Mittvierziger, ehe er sich je eine Ladung Kartoffeln und Zwiebeln in eine Tragtasche kippen lässt. Doch als Diabetiker gelte er in Corona-Zeiten als Risikofall – und sei deshalb rausgeflogen. "Es ist absurd", sagt Abdul, der als Flüchtling aus Afghanistan nach Österreich gekommen ist. Als er jung und gesund war, habe er wegen des endlosen Asylverfahrens jahrelang nicht arbeiten dürfen: "Jetzt, wo ich arbeiten darf, verhindert das die Krankheit." (Gerald John, 24.10.2020)