Die Qualität eines Passes bemisst sich danach, wie viele Schranken er öffnet.

Foto: Reiner Riedler

Immer wenn ich wegfahre, nehme ich meinen Reisepass mit – auch wenn es bloß nach Kaiserslautern oder Leipzig geht, das rote Heft ist dabei, sobald ich Berlin verlasse. Es bestätigt mich darin, eine Reise zu unternehmen. Und in einem Land mit Ausweispflicht ist dieser Pass der einzige Nachweis meiner Identität, den ich habe.

Es ist März 2020, ich sitze in einer Runde mit ein paar eben erst kennengelernten Kolleginnen und Kollegen. Als die Rede auf Barbarossa kommt, frage ich, wer das noch mal war. "Was, das weißt du nicht?" Trotzig sage ich: "Wo ich herkomme, gab es eben andere Kaiser und Könige, sogar eine Kaiserin."

Wieder lachen alle, aber ich meine es ernst. Man glaubt mir meine Fremdheit nicht, selbst wenn ich sie benenne. Denn auch das ist mein Pass für mich, ein Ausweis meines Fremdseins. Vielleicht ist er genau deshalb auch mein Talisman – abgegriffen, an den Ecken geknickt. Weil er bezeugt, was mir lange Halt gegeben hat: das Unterwegssein ohne das Verlangen nach Ankommen.

Verwaltungshintergrund

Im Jahr 2020 ist laut dem von der International Air Transport Association gesponserten Henley-Index der japanische Pass der unangefochten "beste". Mit ihm kann man in 191 Staaten einreisen, ohne vorab ein Visum beantragen zu müssen. Deutschland liegt auf dem dritten Rang, Österreich auf dem fünften.

Die Qualität eines Passes bemisst sich danach, wie viele Schranken er öffnet, notiere ich. Passgeschichten handeln dann meist eher davon, dass Grenzen unpassierbar sind. Was aber, wenn man den Pass als das versteht, was er zuallererst ist: ein Dokument, das das unfreiwillige Verhältnis von einem Selbst zu einer Gemeinschaft definiert.

Mir fällt mein kindlicher Neid ein, den ich gegenüber jenen Mitschülerinnen und Mitschülern empfand, die mehr als einen Pass besaßen. Als hätten sie mehr als ein Leben zur Auswahl. Als ich Anfang des Jahres feststelle, dass mein Pass ablaufen wird, zögere ich, ihn zu erneuern.

Die Überlegung, ob ein Personalausweis nicht ausreichend wäre, erzählt von meinen Reisewegen, vergangenen und geplanten. Sie erzählt von einem punktuellen Zusammenwachsen der Welt, das auf rigorosen Ausschlüssen beruht, von Security-Checks als Ersatz für die Identitätskontrollen, denn für manche verlaufen die Grenzen heute subtiler.

Es ist Februar, Berlin ist erstaunlich warm. Meine Mutter bitte ich, mir die für eine Erneuerung des Passes notwendigen Dokumente per Post zu schicken: Geburtsurkunde, Staatsbürgerschaftsnachweis, liebe Grüße. Ich lebe leicht in Berlin, ohne großen Verwaltungshintergrund, nicht einmal mein Maturazeugnis habe ich hier.

Zufällig privilegiert

In dieser E-Mail schreibe ich, was mir sonst nie über die Lippen kommt, ich schreibe "Mappe" und meine doch "Ordner", als rutschte mir mein Österreichischsein in diesem Moment aus dem Mund – mir, der Überangepassten, die immer mitlacht, wenn jemand Witze über Österreich macht, obwohl solche Witze Ärger in mir verursachen.

Meinen Geburtsort habe ich mir nicht ausgesucht, meine Herkunft ist zufälligerweise privilegiert – nicht zuletzt in Bezug auf die Schranken, die mein Pass mühelos zu öffnen imstande ist. Dann kommen die Grenzschließungen, ein europäisches Land nach dem anderen führt sie ein: Tschechien, Dänemark, Österreich und am 16. März 2020 auch Deutschland. Ich ertappe mich dabei, wie ich das Haus nicht mehr ohne meinen Pass verlasse, als müsste ich jederzeit bereit sein.

Plötzlich erwächst eine Urangst in mir: dass ich ausgeschlossen werde. Dass in dieser Krise mein liebevoll gehegtes Fremdsein mir zum Verhängnis wird. Bisher gab es in meinem Leben nur Grenzöffnungen, Vergemeinschaftung, Reiseerleichterungen und die wenigen Male, als ich vor Reiseantritt ein Visum beantragen musste, kam mir das absurd vor, unzeitgemäß.

Naive Angst

Es ist eine naive Angst, aber ich muss zugeben, dass es in diesem so speziellen Frühjahr Tage gibt, an denen sie mich stärker beunruhigt als die Angst vor dem Virus. Im April erzählt mir meine in den USA lebende Schwester, dass sie schwanger ist. Es ist klar, dass ich sie vor der Geburt ihres Kindes nicht mehr werde besuchen können. Die Grenzen sind dicht, dicht, dichter.

Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass mir eine Reise verwehrt wird. Da erst merke ich, wie selbstverständlich es für mich ist zu verreisen. Ich komme aus einer Familie der Sesshaften, meine Eltern haben Wien nie für längere Zeit verlassen. Wir Kinder aber sind mobil, leben in Deutschland und den USA, haben Auslandserfahrungen in Schweden, Frankreich, Kroatien, Italien gesammelt, sind nach Japan gereist, nach Singapur und ja, auch in die Dominikanische Republik.

Statt zu verreisen, reise ich in diesem Sommer in meiner Erinnerung: Meine erste Auslandsreise führte mich nach Málaga, mit unserer Mutter fliegen wir das erste Mal. Auf diesen Flügen wird noch geraucht, und ich finde das Essen unwirklich aufregend. Später habe ich tagelang Sonnenstich.

Übersteigt die Vorstellungskraft

Meine zweite Reise führte mit dem VW-Bus meines Onkels über die nun offene Grenze zwischen Österreich und der Noch-Tschechoslowakei bis nach Norddeutschland. Als ich zwölf Jahre alt bin, reist mein Mitschüler nach Kenia, stolz berichtet er von der Safari, von den Tieren, die er dort gesehen hat.

Es ist das erste Mal, dass ich verstehe, dass es wirklich und tatsächlich ein Anderswo gibt, dass über die Grenze zu fahren nicht nur Campen in Grado bedeutet, dass es eine Welt gibt, die bei weitem und bis heute mein Vorstellungsvermögen übersteigt.

Nach der Regierungsangelobung im Februar 2000 streife ich meinem Pass eine Hülle über, die dort bis ins Jahr 2005 bleibt. Ich habe diese Regierung nicht gewählt, steht da in den Sprachen der Europäischen Union. Auf Kroatisch steht es noch nicht da.

Als ich im Alter von 19 Jahren dorthin ziehe, um in Vukovar zu arbeiten, bin ich irritiert, wenn Leute sagen: "Ich bin Ruthene." Oder: "Ich bin Ukrainer." Oder: "Ich bin Serbin." Ich antworte jedes Mal: "Aber dein Pass ist doch kroatisch." Das komplexe Verhältnis von Identität, Zuschreibung und Ausweis offenbart sich mir das erste Mal.

Leere Seiten

Jahre später beobachte ich an der slowenisch-kroatischen Schengengrenze, wie ein junger Österreicher aus dem Zug gefischt wird. Sein Pass ist abgelaufen. Trotzdem darf er die Grenze schließlich passieren. "Ob Sie zurückkommen dürfen, kann ich nicht garantieren", sagt der Grenzbeamte. Der Pass ist eben nicht nur ein Eintrittsdokument, sondern auch eine Rückkehrgarantie. Nicht zuletzt die Rückholaktion der deutschen Bundesregierung im Frühjahr 2020 hat das gezeigt.

Es ist einer der letzten Tage im Juni, ich laufe am Tiergarten entlang, und schon von weitem sehe ich die Flagge: Rot-Weiß-Rot mit Bundesadler. Ich betrete die Botschaft der Republik Österreich in Berlin. Während ich im Warteraum sitze, betrachte ich ein Wandbild.

Es ist eine aus Punkten geklebte Weltkarte, grau sind die Punkte bis auf einen einzigen. Ich gehe näher ran, befrage den roten Punkt im Verhältnis zu den anderen: Bist du Wien? Bist du Gesamtösterreich? Oder doch Berlin, Sitz der Botschaft? Topografie war noch nie meine Stärke, aber mir scheint es mehr so wie Mittelfrankreich, vielleicht auch Nordspanien. Ein Raster, in dem die Welt nur inakkurat dargestellt werden kann, auch das sind Grenzen, notiere ich.

Umrisse unserer Identität

In diesem Moment werde ich aufgerufen. Während ich meine Fingerabdrücke scannen lasse, kommt neben mir jemand anderes dran. "Guten Tag", sagt die Person, "ich möchte Namen und Geschlecht ändern, dafür brauche ich neue Dokumente." Immer sind unsere Ausweise auch die Umrisse unserer Identität. Oft gibt es Kongruenz, manchmal aber auch absolute Unvereinbarkeit. Und nicht jede davon lässt sich einfach beheben.

Als ich die Botschaft schließlich verlasse, enthält mein Pass neben den Ein- und Ausreisestempeln Serbiens, der USA, der Republik Moldau, der Ukraine, Georgiens und Armeniens, neben zwei chinesischen Visa auch einen roten Stempel, der auf der ersten Seite prangt: Entwertet ab 24. Juli 2020. Anfang Juli kommt dann mein neuer Pass an, in einem unscheinbaren grauen Umschlag, den ich schon auf der Treppe aufreiße.

Alle Seiten sind leer, wie eine Verheißung auf die Orte, die es damit zu entdecken gilt. Oben angekommen denke ich, vielleicht ist dieser Pass aber auch ultra-anachronistisch. Das Reisen steht nicht erst durch die Covid-19-Pandemie wie noch nie in meinem Leben infrage. Was ich in Händen halte: ein nutzloses kleines Heft aus der österreichischen Staatsdruckerei?

Unabhängige Inter-Nation

Tatsächlich ist der Pass Staatseigentum. Er gehört nicht seiner Inhaberin, sondern dem ausstellenden Staat. Ich denke nach. Zögerlich lege ich meinen aufgeklappten Pass auf den Boden. Setze vorsichtig beide Füße darauf. Ein Besuch in Österreich sozusagen.

Ich muss aufpassen, nicht umzukippen, so eng muss ich die Füße zusammenhalten. Und während ich da stehe, stelle ich mir vor, wie ich andere dazu einlade, es mir nachzumachen, wie wir alle unsere Pässe nebeneinander auf den Boden legen, wir überlisteten das Hoheitsrecht, errichteten eine unabhängige Inter-Nation!

Wie viele Pässe braucht es, frage ich mich, jetzt standhaft, um darauf ein Haus zu bauen, ein Haus, das aufnimmt, das schützt, das Obdach bietet und Zugehörigkeit? Vielleicht könnte mein Pass dann doch mehr sein als dieses momentan nutzlose Ding, könnte mehr sein als ein Ausweis des Verhältnisses zwischen mir und Österreich. Und vielleicht wären in dieser Verwendung endlich alle Pässe gleich. Weil sie ein Versprechen auf eine neue Form des Zusammenhalts böten, auf einen Abschied vom Alten, auf einen gemeinsamen Neuanfang. (Magdalena Schrefel, 25.10.2020)