"Erdäpfel und Kartoffeln existieren ja nebeneinander, und keines ist schlechter." Sprachforscherin Jutta Ransmayr

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STANDARD: Man hört im österreichischen Alltag fast nur noch "Tschüss" statt des schönen alten "Servus", kauft Tomaten statt Paradeisern und Kartoffeln statt Erdäpfeln, findet ein Gericht lecker statt köstlich. Aber was ist so schlimm daran?

Rudolf de Cillia: Nichts. Das ist die Realität. Aufgrund von gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen, vor allem auch im Medienbereich, hat sich in den letzten Jahrzehnten das Tschüss klar durchgesetzt. Wir haben in unserer Studie Schüler und Lehrer befragt, und sogar die Lehrer haben mehrheitlich Tschüss als mündliche Abschiedsformel genannt. Ich erinnere mich an Erhebungen um 1995, da war Tschüss ein Unding. Eine burgenlandkroatische Lehrerin meinte, das sei ja fürchterlich: Jetzt komme das sogar ins Burgenlandkroatische, in der Form "tschiss".

Jutta Ransmayr: Wobei das Tschüss in Österreich auch gerne anders intoniert wird: tschü-ü-s.

de Cillia: Lehrer verwenden das Tschüss teils mit schlechtem Gewissen, aber eben doch, und behaupten, es gebe ein verösterreichischtes Tschüss, das man so singt wie baba-a: tschü-ü-s eben. Beim "lecker" haben wir in unserer Befragung "Schmeckt sehr gut" zur Option gestellt. Über 80 Prozent haben "Schmeckt sehr gut" gewählt.

Ransmayr: Abgesehen davon existieren ja Erdäpfel und Kartoffeln, Paradeiser und Tomaten nebeneinander in Österreich, und keines ist schlechter als das andere. Wichtig ist, dass es in Österreich bei Begriffen, die nicht so häufig sind wie Erdäpfel oder Paradeiser, manchmal Zweifel gibt, ob die wirklich gutes Standarddeutsch sind. Österreichisches Standarddeutsch ist gleich gut wie bundesdeutsches Standarddeutsch.

STANDARD: Ihre Forschungsarbeit ist also nicht unterfüttert mit einem Kulturpessimismus, dass etwas verlorengeht.

Ransmayr: Absolut nicht. Ich würde gar nicht von Kulturpessimismus sprechen. Es geht vielmehr darum, die Sensibilität für die Vielfalt in der Sprache zu schärfen und das Bewusstsein dafür zu stärken, auch auf der Ebene des Standards. Bei Dialekt haben wir ja ganz hohe Loyalitätsraten. Wichtig ist aber, dass in Österreich auch die Ebene der Standardsprache mit dem gleichen Selbstbewusstsein bedacht wird.

de Cillia: Sprache ist ein historisches und gesellschaftliches Phänomen, das auch durch ökonomische Veränderungen beeinflusst wird, aber auch ein eminent politisches Phänomen – wenn man nur an die Schibboleth-Geschichte im Alten Testament denkt.

STANDARD: Also Sprache als Code für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.

de Cillia: Im Buch der Richter geht es um die Überquerung des Jordan an einer Furt. Wer Schibboleth (Hebräisch für Strom, Strömung, Fluss, Anm.) richtig aussprechen konnte, wurde als Angehöriger der Gileaditer erkannt und hinübergelassen, wer Sibbolet sagte, wurde als feindlicher Efraimiter identifiziert und getötet. Der Begriff Schibboleth steht heute für typische Wörter und typische Aussprache, die jemanden als Angehörigen einer bestimmten Sprachgruppe identifizieren.

STANDARD: Erklärtes Ziel Ihres Forschungsprojekts war und ist es, die "innere Mehrsprachigkeit" zu fördern. Was ist darunter zu verstehen?

Ransmayr: Im Wesentlichen die ganze Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten, die wir innerhalb einer Sprache haben. Also alle Varietäten und Spielarten des Deutsch, auf die wir in unserem sprachlichen Repertoire zurückgreifen. Das können Dialekt- oder umgangssprachliche Varietäten sein, also solche, die zwischen Standard und Dialekt liegen, oder auch Standardsprachlicher Varietäten. Dazu würde ich das österreichische Standarddeutsch zählen, aber uns sind auch Phänomene des deutschen Standarddeutsch geläufig.

de Cillia: Man passt sich je nach Situation, Thema und Gesprächspartner an. Politiker etwa wählen in Reden häufig den Dialekt, um Effekte zu erzielen. Ich erinnere mich, wie der damalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl seine Rede an einem 1. Mai mit einem "Und ihr gebts jetzt amoi a Ruah do untn" unterbrach, als es im Publikum zu rumoren begann, und dann im Standarddeutsch weitersprach.

STANDARD: Unvergessen auch der Ordnungsruf des damaligen Nationalratspräsidenten Anton Benya während einer Parlamentsdebatte: "Haltets die Goschn do unten, ös Trotteln!" Das dürfte seiner Popularität nicht geschadet haben.

de Cillia: Ein noch drastischeres Beispiel dafür, wie innere Mehrsprachigkeit in Österreich umgesetzt werden kann.

Ransmayr: Das ist ja auch eine Ressource, die man nutzen kann und wertschätzen sollte. Dann kommt es auch in der Schule wieder ins Spiel, weil Lehrkräfte die ganze Bandbreite ausschöpfen im Unterricht, von der Standardorientierten bis hin zu dialektaleren Spielart, wenn Authentizität gefragt ist, etwa beim Schimpfen. Immer wenn es emotionaler wird, wird von der Standardvarietät weggewechselt.

STANDARD: Unter Lehrerinnen und Lehrern herrscht nach Ihren Erkenntnissen geringe Loyalität gegenüber dem "österreichischen Deutsch", es überwiege ein "Einheitsdeutsch". Was ist unter "österreichischem Deutsch" zu verstehen?

de Cillia: Da gibt es zwei Zugänge. Der eine: Österreichisches Deutsch ist die in Österreich übliche Standardsprache des Deutschen. Das ist auch dokumentiert. Der Lexikograf Jakob Ebner aus Oberösterreich zum Beispiel dokumentiert seit über 50 Jahren den Wortschatz des österreichischen Deutsch. Sein im Vorjahr erschienenes Buch, ein sogenanntes Differenzwörterbuch, trägt auch den Titel Österreichisches Deutsch. Es handelt sich um das Deutsch, das in formellen Situationen gesprochen wird. Und es gibt die Auffassung, alles, was in Österreich gesprochen wird, ist österreichisches Deutsch, also alle drei Ebenen vom Dialekt über die Umgangssprache bis zur Standardsprache. Wir tendieren eher zu Letzterem.

Ransmayr: Wenn man von der Standardebene spricht, also dem, was man gemeinhin als "Hochdeutsch" bezeichnet, ist "österreichisches Standarddeutsch" die präziseste Bezeichnung. Und "österreichisches Deutsch" wäre alles im oben dargelegten Sinn.

de Cillia: Die Standardsprache kann man durch einige Merkmale gut beschreiben. Vor allem beim Wortschatz mit vielen typisch österreichischen Ausdrücken, zum Beispiel in der Verwaltungssprache, aber auch in der Syntax, in der Verwendung der Zeiten der Vergangenheit. In Österreich würde man eher im Perfekt erzählen, im bundesdeutschen Deutsch eher im Präteritum, also im Imperfekt. Ein typisches Merkmal ist auch das Fugen-s, also etwa Schweinsbraten statt Schweinebraten, Rindsbraten statt Rinderbraten.

Ransmayr: Typisch ist auch das indirektere Sprachverhalten: dass Österreicher sehr gerne bei Bitten den Konjunktiv verwenden. Also: Ich würde darum bitten, statt: Ich bitte darum. Oder: Ich hätte gerne ein kleines Bier.

STANDARD: Parallel zum Einheitsdeutsch scheinen wir uns auf eine Welteinheitssprache hinzubewegen: zum schlechten Englisch.

de Cillia: BSE – Bad Simple English. Ein böser Ausdruck für etwas, das international sehr wichtig ist als Lingua franca, eine vereinfachte Form des Englischen, die den riesigen Vorteil bietet, dass man weltweit damit kommunizieren kann. Aber dass wir uns auf eine Welteinheitssprache zubewegen, würde ich eher verneinen. Das Prestige einer Sprache definiert sich nicht nur über die Zahl ihrer Sprecher und Sprecherinnen, sondern auch über die ökonomische Stärke. Hier ist der Blick auf China aufschlussreich. China hat innerhalb kürzester Zeit hunderte Konfuzius-Institute weltweit gegründet, wo man Chinesisch lernen kann – nachdem es jahrzehntelang fast keine Aktivitäten in diesem Bereich gesetzt hatte.

Ransmayr: Ein Einheitsdeutsch oder eine Welteinheitssprache sind nicht realistisch, weil Sprache eine wichtige Verortung bietet, wo man sich in seiner Identität wiederfindet.

de Cillia: Zu Beginn unserer Gruppendiskussionen 1995, 2005 und 2016 fragten wir: Was macht es aus, dass Sie Österreicherin oder Österreicher sind? Und sehr häufig kam spontan die Antwort: die Sprache.

STANDARD: Je stärker also die Globalisierungstendenzen, desto wichtiger die Sprache bei der Bewahrung der eigenen Identität? Kann Sprache so etwas wie Geborgenheit vermitteln?

Ransmayr: Genau das tut sie. Sie vermittelt Geborgenheit und Nähe. (Josef Kirchengast, 26.10.2020)