Über die Europäische Union wird viel geredet und noch mehr geschimpft. Sie ist weitläufig mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Als zu behäbig, regelungswütig und wenig beschlussfähig wird sie oft kritisiert. Bei all der berechtigten Kritik – wie etwa nachteilige Handelsbeziehungen zu Drittstaaten, fragwürdige Rüstungsexporte, aber auch zunehmende demokratiepolitische Probleme im Inneren – darf der Grundgedanke, der in dieser europäischen Idee steckt, nicht vergessen werden. Denn sie ist in ihrem Kern eine Friedensunion, die dazu beigetragen hat, nationale Vorurteile abzutragen. Vorurteile zwischen Nationen und Völkern, die zwischen 1870 und 1945 drei blutige Kriege hervorbrachten und unzähliges Leid weit über Europas Grenzen hinweg verursachten. "Die Gegner eines vereinigten Europa vergessen zu leicht, dass beim Gedanken an Europas Einheit nicht bloß kommerzieller Vorteil, sondern die Verhinderung von Konflikten Pate gestanden hat", mahnte einst Sir Peter Ustinov, ein Mann, der nicht nur Humorist, sondern auch Humanist war. Diese Worte sind heute noch genauso gültig wie damals.

Neutralität als Chance für Österreich

Die europäische Integration als Modell zur Überwindung nationaler Konflikte hat viel für die innere, aber auch äußere Sicherheit beigetragen. 25 Jahre nach dem EU-Beitritt Österreichs sollten wir uns gerade am Nationalfeiertag, an dem die fast schon identitätsstiftende "immerwährende Neutralität" gefeiert wird, der Frage stellen, was dies heute noch bedeutet.

Die Diskussion rund um eine Militarisierung der EU (Schaffung einer Verteidigungsagentur, Battle Groups, PESCO et cetera) stellt insbesondere die neutralen Staaten vor eine große Herausforderung. Inwiefern soll sich ein neutrales Land daran beteiligen und kann sich Österreich als EU-Mitgliedsland überhaupt noch als neutral bezeichnen? Dabei wird Neutralität oft mit Nichteinmischung gleichgesetzt. Doch in einer zunehmend globalisierten Welt mit globalen Herausforderungen wie Klimawandel, großen Flucht- und Migrationsbewegungen, Cyberkriminalität, internationalem Terrorismus, Kriegen und Konflikten mit internationaler Dimension und nicht zuletzt der Covid-19-Pandemie kann sich ein Land, das sich den europäischen Werten verpflichtet fühlt, nicht einfach aus allem heraushalten.

Im Sinne einer engagierten Neutralität eröffnet diese Möglichkeiten, die anderen Staaten aufgrund ihrer militärischen Stärke oder Rivalität verwehrt bleiben. Wien als Ort der internationalen Diplomatie eröffnet Dialogforen für Friedensinitiativen, an denen auch Konfliktparteien teilnehmen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Ein Gedanken- und Interessenaustausch ist der erste Schritt für gegenseitiges Verständnis und Kompromissfindung. Die Ansiedlung internationaler Organisationen wie der OSZE, der Uno, der IAEA und auch der Opec wäre ohne den neutralen Status Österreichs nicht möglich gewesen. Wien hat sich längst als Ort der internationalen Diplomatie etabliert und ermöglicht Verhandlungen, wo ansonsten oft die Waffen sprechen. Schon während des Kalten Krieges diente Österreich als "Brücke zwischen Ost und West", und es war nicht zuletzt die immerwährende Neutralität, die Österreich die Wiedererlangung seiner territorialen Souveränität erst ermöglichte. Eine pragmatische Entscheidung, die für Österreich und vor allem auch für die Österreicher und Österreicherinnen identitätsstiftend wurde.

Für europäische Werte

Ein Meisterstück der internationalen Diplomatie war zuletzt der sogenannte Atomdeal mit dem Iran, der 2015 unter anderem in Wien verhandelt wurde. Obwohl von der Trump-Regierung 2018 torpediert, zeigt er doch, was auf dem Verhandlungsweg möglich ist, wenn sich die Parteien gemeinsam an einen Tisch setzen und ernsthaft versuchen, einen Kompromiss zu finden.

Dass sich die äußeren Umstände seit 1955 verändert haben und die immerwährende Neutralität heute andere Funktionen hat als während des Kalten Krieges, ist offensichtlich. Dennoch hat es Österreich in den letzten 65 Jahren geschafft, internationales Vertrauen zu etablieren, trotz EU-Mitgliedschaft und umgeben von einem wahrgenommenen Nato-Schutzschirm.

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Österreich ist seit 1995 EU-Mitglied.
Foto: AP/Johanna Geron

Neutralität selbst schafft keinen Frieden, aber sie kann ein Element von vielen sein, die es ermöglichen, ohne Waffengewalt friedliche Lösungen in internationalen Konflikten zu finden. Als EU-Mitglied soll sich auch Österreich für die europäischen Werte einsetzen, denn auch wenn diese oft als moralische Überhöhung und leere Schlagwörter wahrgenommen werden, dürfen wir nicht vergessen, dass wir uns auch vertraglich verpflichtet haben, die Werte, auf die sich die Union gründet, zu achten und zu respektieren: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören (Art 2 Vertrag über die Europäische Union).

Nationale Uneinigkeiten überwinden

Seit Gründung der Europäischen Union hat es innerhalb dieser keinen Krieg mehr gegeben, eine Zäsur in der europäischen Geschichte.

Seit den Ursprüngen des europäischen Projekts vor sieben Jahrzehnten, die auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zurückgehen, stellte der Friedensanspruch ein zentrales und verbindendes Element dar. Eine Vielzahl dynamischer Entwicklungen ebnete den Weg von der Verflechtung der Kohle- und Stahlindustrie bis zu den vielschichtigen sicherheitspolitischen Kooperationsformaten der EU von heute. Jedoch basiert diese Evolution in erster Linie auf zivilen friedensstiftenden Maßnahmen in der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit. Klassische militärische Aspekte sind im Erfolgskonzept des europäischen Friedens sekundär einzuordnen. Als Reaktion auf neue globale Unsicherheiten, Machtverschiebungen und Krisen gewannen jedoch die europäischen Ambitionen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in der jüngsten Vergangenheit zunehmend an Bedeutung. Damit rückten auch Debatten rund um militärische Kapazitäten, strukturierte Verteidigungsinitiativen und Rüstungsprogramme der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten in den Vordergrund.

Besonderes Augenmerk muss dabei auf die Forderung einer gemeinsamen politischen Umsetzung gelegt werden. Darin liegt sowohl die potenzielle Stärke als auch die omnipräsente Schwäche der europäischen Handlungsfähigkeit. "In Vielfalt geeint", das Motto der EU, erscheint insbesondere in stark nationalstaatlich geprägten Themenfeldern ambivalent: Verteidigung, Sicherheit und Äußeres stehen an oberster Stelle. Genau in jenen Politikbereichen besteht dringend kollektiver Handlungsbedarf, ansonsten könnten sich weitreichende negative Auswirkungen auf wirtschafts- oder sozialpolitische Prozesse ergeben. Neue unkonventionelle Bedrohungen stellen zudem die Sicherheit, Stabilität und Autonomie der Europäischen Union auf die Probe. Die Mitgliedsstaaten sind angehalten, nationale Uneinigkeiten zu überwinden und gemeinsam als vereintes Europa auf internationaler Bühne aufzutreten.

Neutralität ist beständig

Zur Silberhochzeit Österreichs und der Europäischen Union steht eines fest: Eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, auch im sicherheitspolitischen Sinne, steht nicht im Widerspruch zur Neutralität. Im Gegenteil, erst die Kooperation mit unseren europäischen Partnerländern und der gemeinsame europäische Appell an den Multilateralismus im Sinne der europäischen Werte sind Garanten für die Beständigkeit der österreichischen Neutralität. Denn: Immer ist Anfang (Franz Theodor Csokor). (Stephanie Fenkart, Michael Zinkanell, Constantin Lager, 26.10.2020)