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Novak Djokovic ist ein Superstar, der aneckt. Er verfolgt ein Ziel: "Ich will authentisch sein."

Foto: REUTERS/Christian Hartmann

Es sind Momente der absoluten Stille. Nur ein Geräusch, fast keine Bewegung, alles konzentriert sich auf den Ball. Das war auch schon damals so, als die Tennisstadien dieser Welt noch voll mit Zuschauern waren. Der Gegner ist bereit. Die linke Hand lässt den Ball aus, die Schwerkraft zwingt ihn auf den Boden – und wieder zurück in die Hand. Ein-, zwei-, drei-, vier-, fünf-, sechsmal. Der Gegner ist noch immer bereit. Sieben-, acht-, neun-, zehn-, elf-, zwölf-, dreizehnmal.

Dann geht es schnell. Novak Djokovic verlagert das Körpergewicht ein wenig nach hinten. Aufschlag. Alles aus einem Guss, eine Bewegung. Der Gegner ist noch immer bereit, die Kontrolle hat aber Djokovic – schon bevor der Ball über das Netz zischt. Und er kostet sie aus, diese Momente der Stille, in denen alle auf sein Service warten. Tennis ist ein Spiel der Kontrolle: der Kontrolle über den Schläger, den Ball, den Körper, den Kopf und ultimativ über den Gegner. Und das ist ein Sport, den der Serbe Djokovic nun seit Jahren mitdominiert. Wenn er ab Montag in der Wiener Stadthalle aufschlägt, ist er, wie so oft, die Nummer eins der Welt. Das klingt nicht nur groß, er ist es auch: Djokovic ist aktuell der beste Tennisspieler der Welt.

Bier für die Bauarbeiter

Djokovic wird 1987 in Belgrad geboren. Die Familie verbringt viel Zeit im drei Autostunden entfernten Kopaonik. Vater Srdjan ist dort Skilehrer, betreibt eine Pizzeria, ein Sportgeschäft, sogar eine Kunstgalerie. Um das Wintersport-Resort auch für den Sommertourismus attraktiv zu machen, wurden drei Tennisplätze errichtet – gegenüber von Djokovics Restaurant. Da ist Novak vier Jahre alt. Der Bub bringt den Bauarbeitern Bier, darf als Belohnung trainieren, sobald die Plätze bespielbar sind.

Als die ehemalige Profispielerin Jelena Gencic Kopaonik für ein Trainingscamp besucht, lädt sie Djokovic zum Probetraining ein. Er erscheint mit einer viel zu großen Tennistasche. Da war klar: Der Bub meint es ernst. Gencic erkennt sein Talent, der älteste von drei Söhnen wird zur Priorität der Familie. 2003 gewann er mit 16 Jahren seinen ersten Titel auf der Futures-Tour. Drei Jahre später räumte er auf ATP-Ebene ab, gewinnt das Turnier in Amersfoort. Im selben Jahr schlug er im Finale von Metz Jürgen Melzer – Österreich-Bezug.

Melzers Anteil

Melzer hat einen weiteren prominenten Anteil an Djokovics Weg zum besten Tennisspieler der Welt. Gebhardt Gritsch, fast zehn Jahre lang als Coach im Team Djokovic, erinnert sich: "Die Niederlage gegen Melzer im Viertelfinale der French Open 2010 war ein Wendepunkt. Es geschah ein Umdenken, er wurde deutlich besser." Djokovic gab später einmal zu, dass er nach dem Match gegen Melzer, das er nach einer Zweisatzführung noch in fünf Sätzen verloren hatte, sogar ans Karriere-Ende dachte.

Der heute 33-jährige Mann mit dem dichten, schwarzen Haar spielt fantastisches Tennis, befindet sich in der Blüte seines Schaffens. Am 8. März 2021 wird er Roger Federer einholen und zur längstregierenden Nummer eins aller Zeiten werden. Er ist einer von nur drei Spielern in der Geschichte, der alle vier Grand Slams gleichzeitig hielt. Insgesamt gewann er 17 Grand-Slam-Titel, dazu holte er unerreichte 36 Turniersiege auf der prestigeträchtigen Masters-Ebene. Es ist eine Karriere in Superlativen: 930 Einzelsiege stehen lediglich 189 Niederlagen gegenüber. Er sammelte Preisgelder in der Höhe von 145 Millionen Dollar.

Auf dem Platz dreht sich alles um Kontrolle. Selbst dann, wenn die Spielregeln vorsehen, dass sein Gegner mit dem Aufschlag den Ballwechsel kontrollieren müsste: Rechtshänder Djokovic ist der beste Rückschläger im Zirkus. Die Antwort auf das Service wird zur Herausforderung für den Aufschläger. Seine größte Stärke aber ist das Fehlen einer Schwäche. Und: Djokovic macht fast keine Fehler, erzwingt durch seine Konstanz aber jene der Gegner. Der Vergleich mit Federer und Nadal spornte Djokovic laut Gritsch nur noch mehr an: "Nadals Power war wie die Karotte vor dem Esel. Unser Ziel war, dass Novak in Grundlinienduellen mit Nadal bestehen, ja sie gewinnen kann."

Djokovic ist in keiner Nische, kein abwartender Defensiv-Spieler, oder blinder Draufhauer, er kann alles. 2013, als es in Mode war, sich ehemalige Starspieler ins Trainerteam zu holen, setzte er auf Boris Becker. Heute hört er auf einen anderen Wimbledon-Sieger, Goran Ivanisevic, und auf seine Ehefrau Jelena.

Esoteriker im Fell

Vuk dlaku menja, ali ćud nikada, heißt es in Serbien: Der Wolf wechselt zwar sein Fell, aber niemals seinen Charakter. Es wäre vermessen, Djokovics Charakter zu bemessen. Das Fell kann man aber sehen. Immer wieder ist der Serbe Gegenstand von Diskussionen: Wenn er eine alternative Spielergewerkschaft gründet und am vorläufigen Höhepunkt der Corona-Pandemie ein vollbesuchtes Einladungsturnier veranstaltet. Wenn er mit seinem Hang zum Esoterischen am Impfgegner streift oder bei den US Open disqualifiziert wird, weil er einer Linienrichterin den Ball an den Hals pfeffert.

Djokovic polarisiert, eckt an. Das Problem dabei ist, dass man zugleich das Gefühl hat, dass der zweifache Familienvater im Geltungsdrang zu versinken droht. Djokovic sucht die Anerkennung der Szene und der Welt, das Publikum soll ihn lieben, die Gegner fürchten, aber respektieren. Das ist bei Gott keine Todsünde, gibt aber gehörig Spielraum für Tolpatschigkeit, die dem Superstar immer wieder auf den Kopf fällt.

Nur noch daheim lustig

"Ich will authentisch sein", sagte Djokovic einmal. Schon beinahe krampfhaft mimte er früher den Schmähbruder. Man nannte ihn den "Djoker", ein Spitzname, der bis heute geblieben ist. Er drehte Videos von sich, in denen er Kollegen imitierte. Stadiensprecher baten ihn nach Matches um Kostproben, die Kollegen fanden die Showeinlagen weniger lustig. Seither witzelt der Djoker, so sagt er selbst, nur noch zu Hause. "Ich befinde mich noch immer in einer Lernkurve und muss mich verbessern", sagte er nach der Disqualifikation bei den US Open 2020 und meint dabei sein Temperament. Nach 13 Jahren kehrt Djokovic nun nach Wien zurück. 2007 gewann er das Turnier, heuer führt er ein hochkarätiges Starterfeld an. Stille. Schwerkraft. Aufschlag. (Andreas Hagenauer, Lukas Zahrer, 24.10.2020)