Die Stärkung des Völkerrechts, Abrüstung oder das Bauen von Brücken – Wesensmerkmale der neutralen Staaten – sind heute so nötig wie damals, so der Friedensforscher Thomas Roithner im Gastkommentar.

Der 26. Oktober erinnert an den Neutralitätsbeschluss. Das Bundesheer begeht den Tag mit einer Leistungsschau auf dem Wiener Heldenplatz, heuer Corona-bedingt als "Hybrid-Event" im Fernsehen, wie Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) ankündigte.
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Mit Altersmilde könnte die Neutralität auf den bunten Strauß an Attributen blicken, der ihr schon zugedacht wurde: aktiv, Nato-kompatibel, engagiert oder interessengeleitet. Neutralitätsrecht und vor allem Neutralitätspolitik wurden zu einem regelrechten Wünsch-dir-was. Wer bietet mehr?

Die Neutralität feiert den 65er. Nicht zufällig soll für eine weitere Jubilarin ein Ständchen gesungen werden: Die Vereinten Nationen wurden zwei Tage vorher 75 Jahre alt. Beide Geburtstagskinder vereint eine Botschaft. Neutralität ist – nach dem Völkerrechtler Manfred Rotter – "im Kern Ausdruck einer Haltung der Kriegsverweigerung", und die Uno wurde geschaffen, um "künftige Geschlechter von der Geißel des Krieges zu bewahren" – und es gilt ein völkerrechtliches Gewaltverbot. Nicht aus heiterem Himmel ist das neutrale Österreich ein Uno-Standort.

EU-Interessen sind Trumpf

Anders als Mitte der 1990er ist ein Nato-Beitritt heute Schnee von gestern. Der nukleare Militärpakt ist unpopulär. Seit dieser Zeit üben sich Parteien und Regierungen in der Kunst, Neutralität und militärische EU-Entwicklungen blanko für kompatibel zu erklären. Schon 1992 war im EG-Vertrag von der Option "gemeinsamer Verteidigung" die Rede. Mit Geist und Buchstaben der Neutralität gänzlich unvereinbar.

Ab 2003 begann die EU, Auslandseinsätze in Marsch zu setzen. Längst gegessen war hierzulande die Frage, ob EU-Kampfeinsätze mitveranstaltet werden. Strittig war nur, ob diese auch völkerrechtswidrig ausgefochten werden. Die "Battle groups"-Debatte legte Zwischenbilanz: EU-Interessen sind Trumpf. Völkerrecht und Neutralität geben notfalls zu.

Freie Fahrt

Auch umstrittene EU-Militäreinsätze hat Österreich durchgewunken. EU-Truppen im Kongo, Tschad, Zentralafrika oder am Horn von Afrika. Rohstoffinterventionismus und neokolonialer Geruch bleiben im Raum. Ausgeblieben ist eine österreichische Debatte, wo der Trennstrich zwischen Neutralität und Bündnisloyalität ist und vor welchen Karren Österreich bei so manchen EU-Einsätzen gespannt wird. Seit den ersten Militäreinsätzen hat die Militärmacht EU wesentlich mehr politisches Territorium erobert als die Zivilmacht.

Das Ja zum Brexit 2016 war Startschuss, um beim EU-Rüstungsfonds, dem militärischen Hauptquartier, dem militärischen Kerneuropa samt Eurodrohne und Kampfhubschrauber Nägel mit Köpfen zu machen. Während man über Personenfreizügigkeit diskutiert, haben Panzer im Rahmen der milliardenschweren "Military Mobility" freie Fahrt durch die EU. Neu im Instrumentenkasten: ein Rüstungsbudget, obwohl der EU-Vertrag dies untersagt. Es untermauert – wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verdeutlicht –, dass die EU "die Sprache der Macht" lernen muss. Und Österreich singt vorbildlich.

Wofür Neutrale?

Ein Blick in die Geschichte der europäischen Neutralen der letzten Dekaden zeigt, dass die Stärkung des Völkerrechts, Abrüstung oder das Bauen von Brücken Wesensmerkmale sind. Das ist – klug gemacht – heute so nötig wie damals.

In der Rüstungspolitik wird das aktuelle Problem augenscheinlich. Ein reflexartiges Ja zu EU-Rüstungs- und Militärkooperationen aus Wien. Umgekehrt findet Österreich kaum oder gar keine Verbündeten in der EU, wenn es um den Verbotsvertrag von Atomwaffen oder ein umfassendes Verbot von autonomen Killerrobotern geht. Die Wertegemeinschaft EU hat Petersilie in den Ohren, selbst wenn international die Sirenen für Abrüstung heulen.

Österreich steht beim bald in Kraft tretenden Vertrag zum Atomwaffenverbot in der ersten Reihe. Außer dem neutralen Irland und Malta unterstützt kein EU-Staat dabei. Warum die Zusammenarbeit der Neutralen auch mit Schweden und Finnland für mehr zivile Krisenprävention und Konfliktlösung nicht strukturiert ausweiten?

Modell Kopenhagen

Dänemark hat sich – lassen wir die Motive mal beiseite – aus Teilen der europäischen Militär- und Rüstungspolitik herausgenommen. Es gibt Opt-outs bei Militäreinsätzen und keine Milliarden aus Kopenhagen für kerneuropäische Rüstungsprojekte. Eine Alternative zu den umstrittensten Militarisierungsprojekten ist also machbar, zumal derzeit auch kein EU-Staat zum Mitmachen gezwungen werden kann.

Glaubwürdig Neutrale sollen anbieten, was für einen friedlicheren Globus am meisten fehlt. Waffen und Truppen hat die Welt genug – da braucht es nicht Österreich auch noch. Damit begrenzte Ressourcen für das Richtige da sind. Das deutsch-französische Credo seit den 1990ern: EU-Politik "im Geiste der Loyalität und gegenseitigen Solidarität". Wo wäre Österreich heute mit den Vorstößen zum Atomwaffenverbot, wenn loyal im Rahmen der EU auf Erlaubnis gewartet worden wäre? Nicht die Partner bestimmen die Aufgaben, sondern die Aufgaben die Partner. Die außenpolitischen Geburtstagskinder – die Neutralität und das Gewaltverbot der Uno – mögen quietschlebendig bleiben. Dazu braucht es nicht ständig den Blick in den Teller, sondern jenen über den europäischen Tellerrand. (Thomas Roithner, 26.10.2020)