Stellen Sie sich vor, Sie bewerben sich für eine neue Stelle. Knapp vor der Entscheidung über Zu- oder Absage bittet Sie Ihr potentieller Arbeitgeber noch um die freiwillige Abgabe einer Blutprobe, weil man untersuchen möchte, ob Sie auch wirklich gesund sind. Selbstverständlich können Sie auch ablehnen. Vielleicht bekommen Sie die Stelle ja trotzdem.

Stellen Sie sich vor, man bittet Sie am Arbeitsplatz, freiwilllig der Nutzung eines Computerprogramms zuzustimmen, mit dem Ihre Produktivität überwacht wird. Vielleicht sind Sie ja trotzdem produktiv. Und natürlich können Sie ablehnen.

Stellen Sie sich vor, man bittet Sie, der Schule Ihres Kindes freiwillig dessen IQ mitzuteilen, damit Defizite entdeckt und es besonders intensiv gefördert werden kann. Sie wolllen ja nur das Beste für Ihr Kind. Vielleicht hat es ja gar keine Defizite.

Würden Sie diese Entscheidungen "freiwillig" nennen?

Appell des Gesundheitsministers

Manchmal funktioniert Politik nach Drehbuch: Im Juli 2020 stellte Andreas Proschofsky im STANDARD die Frage: "Stopp Corona"-App: Was hat das Rote Kreuz bloß falsch gemacht?" In dem Beitrag listet er eine Reihe von Gründen für die mangelhafte Popularität der Stopp-Corona-App auf: technische, politische und rechtliche; insbesondere an die Debatte um die Freiwilligkeit der Installation, die sehr schnell zum Zankapfel geworden war, weil Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) die Devise ausgegeben hatte, die App könne "noch mehr" helfen, wenn ihr Einsatz verpflichtend sei, möchte ich hier erinnern.

Diese Debatte ist längst Makulatur, weil der technische de-facto-Standard, der von Apple und Google vorgegeben ist (ein weiteres Beispiel für die realen Machtverhältnisse im Netz), voraussetzt, dass teilnehmende Staaten in "official Apps" auf Freiwilligkeit setzen (oder das, was diese Unternehmen darunter verstehen).

Nicht Makulatur ist freilich die Prognose, mit der Proschofskys Beitrag endet. Er schreibt: "Für das Rote Kreuz bleibt aber zumindest ein – wenn auch etwas zynischer – Trost: Sollten die Infektionszahlen im Herbst tatsächlich wieder ansteigen, werden wohl auch die App-Downloads signifikant zunehmen."

Früher und stärker als  uns allen lieb ist und die meisten geahnt haben, steigen die Infektionszahlen. Und damit einher geht, wie am 25. Oktober bekannt wurde, ein Appell des Gesundheitsministers, die App zu installieren. "Jetzt Stopp-Corona-App installieren und damit Maßnahmen gegen Pandemie wirksam unterstützen", fordert der Minister. Die Zahl der Installationen soll also (rasch und deutlich) steigen.

Foto: Nikolaus Forgó

Ziele müssen klar formuliert sein

Das ist nicht verwunderlich. So ähnlich war das auch im März/April, als in Österreich - im internationalen Vergleich sehr früh - die App auf den Markt gekommen war. Appelle der Politik hier, Betonung der Freiwilligkeit der Verwendung dort. Mindestens seit damals ist jedoch bekannt, dass, will man auf Freiwilligkeit setzen, einige Grundbedingungen erfüllt sein müssen, wenn viele freiwillig installieren - und dann auch nutzen! - sollen.

Die Menschen müssen, erstens, verstehen, wozu die App überhaupt dienen soll und dass ihnen der Einsatz nützt. Es müssen also die Ziele klar formuliert werden. Das ist hier unter anderem deshalb anspruchsvoll, weil die App ja auf Altruismus setzt: Bin ich selbst infiziert, habe ich von der App nichts (mehr), sondern nur mehr die, die ich informiere.

Die Menschen müssen, zweitens, überzeugt sein, dass die Ziele mit der App erreicht werden können - und mit einem vernünftigen Ressourceneinsatz, der nicht anderswo besser aufgehoben wäre (etwa beim flächendeckenden Einsatz von Masken). Die App muss also für das gewählte Ziel (Containment? Flatten the Curve? etc.) überhaupt geeignet sein. Zur Bildung dieser Überzeugung trägt nicht bei, dass berichtet wurde, dass die Erfolgszahlen gering seien und an der Weiterentwicklung nicht mehr gearbeitet werden könne, weil schlicht kein Geld mehr da und freiwillige, unentgeltliche Arbeit die Ausnahme sei. Idealerweise (und rechtlich gebotener Weise) erfolgt der Ressourceneinsatz auch in einer Form, bei der Mitteileinsatz und Output in einem bestmöglichen Verhältnis stehen, also insbesondere der (datenschutzrechtliche) Grundrechtseingriff, der erfolgt, möglichst gering ist.

Drittens, und vor allem, müssen die Menschen vertrauen: darin, dass die App technisch funktioniert und darin, dass ihnen kein (rechtlicher) Nachteil aus dem Einsatz erwächst und dieser eben tatsächlich, im Wortsinne, freiwillig ist (und nicht so wie in den Beispielen oben).

Fragen seit März bekannt

Gerade hinsichtlich des letzten Punktes ist aber immer noch alles auf dem Stand von April. Was geschieht bei vorsätzlichen/fahrlässigen positiven Falschmeldungen? Was ist die Folge des Erhalts einer Verdachtsdiagnose? Was ist, wenn man eine Warnung einfach ignoriert? Was ist mit einem Arbeitgeber oder einer Arbeitgeberin, die von ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die "freiwillige" Installation vor dem Betreten des Arbeitsplatzes mit dem Argument verlangt, für die Sicherheit der anderen am Arbeitsplatz zu sorgen? Kann ein Restaurantbetreiber die "freiwillige" Installation vor Betreten des Restaurants verlangen, eine Schuldirektorin vor Betreten der Schule? Was geschieht mit den Daten nach Ende der Krise? Können diese tatsächlich für nichts Anderes verwendet werden? Und so weiter.

Alle diese Fragen sind mindestens seit März bekannt. Sie haben unter anderem dazu geführt, dass die österreichische Bioethikkommission in einer Stellungnahme vom Juni 2020 gefordert hat (Hervorhebungen von mir):

"Eine detaillierte Regelung im EpidemieG oder in spezieller Covid-Gesetzgebung, welche neben den Voraussetzungen für die Anwendung der Maßnahme auch deren begrenzte Dauer, das Verbot der Datenverarbeitung zu anderen Zwecken als denen der Eindämmung von Covid-19 und weitere Punkte ausdrücklich klarstellt, ist im Interesse der Rechtssicherheit für alle Beteiligten zu fordern." Und weiter: " Die Verwendung solcher Applikationen muss grundsätzlich auf Freiwilligkeit beruhen, wobei bereits unterhalb der Schwelle gesetzlicher Verpflichtung und insbesondere durch das Hinzutreten privater Akteure (z. B. Betreiberinnen bzw. Betreiber von Einrichtungen oder Veranstalterinnen bzw. Veranstalter) echte Freiwilligkeit oft nicht gegeben ist. Es sollten daher für staatliche wie für private Akteure ähnliche Bedingungen formuliert werden, unter denen die Verwendung einer bestimmten Applikation zur Bedingung für die Nutzung einer Einrichtung oder die Inanspruchnahme einer Leistung gemacht werden kann. Menschen, die solche Applikationen nicht verwenden wollen oder können, darf dies zu keinen Nachteilen bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit oder Autonomie gereichen."

Der Ruf nach dem Gesetzgeber verhallte ungehört. Weiterhin findet man auf den Webseiten des Gesundheitsministeriums (nach einigem Suchen) nur eine "Position zum Thema Contact Tracing App". Auf deren Grundlage hatte Bundesminister Rudolf Anschober (Die Grünen) schon im Juni 2020 in einem Interview (mit dem Verfasser) die Notwendigkeit der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zum Einsatz der App verneint:

Department of Innovation and Digitalisation in Law

Manches an dieser auf der Minsiteriumswebseite abrufbaren "Position" des Gesundheitsministeriums lässt sich hinterfragen, zum Beispiel schon ihre Rechtsnatur. Was ist eine derartige "Position"?

Was bedeutet auch, zum Beispiel, :"Die Informationen und Warnungen müssen dabei inhaltlich auf die Containment-Strategie der Gesundheitsbehörden abgestimmt sein und einen praktischen Nutzen für die AppUser haben." Wie soll Missbrauch "durch technische Möglichkeiten und Anreizsysteme vermieden werden, jedoch ohne die Prinzipien des Datenschutzes und der Freiwilligkeit zu kompromittieren?"

Darauf kommt es aber jetzt gar nicht an. Wir wollen gerne glauben, dass die Überwachung und diese Ziele durch das Ministerium tatsächlich gewollt sind und auch wirklich versucht werden.

Aber die Situation ist, wir wissen es, sehr ernst. Wir müssen deswegen alle, mangels gesetzlicher Klarstellung individuell und unter einer Vielzahl von Annahmen, entscheiden, ob sich der App-Einsatz für uns "rechnet". Und wir müssen deshalb entscheiden, ob wir dem Ministerium und dem App-Anbieter vertrauen - ohne klare gesetzliche Grundlage - stattdessen auf der Basis einer "Position".

Dabei wäre für die Bildung unseres Vertrauen eine Beantwortung der drei genannten Fragen in einer verbindlichen Norm weiterhin sehr hilfreich. Dazu ist es nicht zu spät. Dazu berufen wäre der Gesetzgeber. Er hat seit März mehrfach gezeigt, dass er sehr schnell agieren kann. Der Gesetzgeber könnte sich zu diesem Zwecke an einer detaillierten Empfehlung des Datenschutzrats zu Prinzipien für die Verwendung von Contact Tracing und Contact Tracing-Apps vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie orientieren und hätte derart eine "sozialpartnerschaftlich ausgehandelte", auch von Expertenrat getragene "Blaupause".

Entschließung des Nationalrats

Falls dies nicht geschieht: Wenn man denn schon die meines Erachtens besseren rechtlichen Argumente, die für eine gesetzliche Begleitung sprechen, nicht teilt, (so wie zumindest bisher der Minister), dann läge in einem anderen parlamentarischen Akt, nämlich in einer ersatzweise anzudenkenden Entschließung des Nationalrats, immer noch eine wichtige Botschaft: die, dass der Souverän (und nicht "nur" der Minister) von der Sinnhaftigkeit und der rechtlichen Zulässigkeit des Einsatzes der App in ihrer derzeitigen Gestalt unter den aktuellen Bedingungen auch wirklich überzeugt ist. Das Parlament würde erklären, dass wir ihm und der Freiwilligkeit des Einsatzes der App, von dem keine weitere negativen Konsequenzen ausgehen, vertrauen dürfen.

Entschließungsanträge werden für alles Mögliche gestellt: von Maßnahmen gegen Kinderarmut bis zu Deutschkenntnissen für Taxifahrer. Warum nicht auch hier? Eine - einstimmige - Annahme würde bei der Vertrauensbildung helfen.

Transparenzhinweis: Ich bin unabhängiges Expertenmitglied des Datenschutzrats. In dieser ehrenamtlichen Funktion habe ich im April 2020 ein Gutachten zu datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen des Einsatzes von Tracing-Apps verfasst und darin die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage, insbesondere zur Absicherung der Freiwilligkeit des Einsatzes der App, empfohlen. (Nikolaus Forgó, 27.10.2020)

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