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Bewirbt sich eine Frau mit Kindern als Laborleiterin, gibt es oft den Gedanken: "Wie macht sie das, wenn die Kinder krank sind?" Das ist ein Gender-Bias.

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Seit den 1990er-Jahren studieren mehr Frauen als Männer. Doch je weiter die wissenschaftlichen Karrieren fortschreiten, desto weniger Frauen bleiben übrig. Dieses Phänomen wird als Leaky Pipeline bezeichnet. Das Tropfen in der Pipeline verantwortet ein Gender-Bias, denn auch die Wissenschaft ist nicht vor Vorurteilen gefeit. Die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter hat in einem Vortrag an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften über den Gender-Bias gesprochen und darüber, warum die Pipeline wegen Corona noch löchriger werden könnte.

STANDARD: Sie sind Umwelthistorikerin. Warum befassten Sie sich überhaupt mit Gender-Bias und Leaky Pipeline?

Winiwarter: Ich bin Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ich habe eine Professur. Ich bin eine der wenigen, die es geschafft haben, und bin nun in einer sehr privilegierten Position. Ich kann es mir leisten, die Teilnahme an einem Manel, also einem rein männlichen Panel, abzusagen. Ich kann sagen, ich komme da bestimmt nicht hin, um einem Manel zuzuhören. Diese Position betrachte ich als Verpflichtung, mich um die Personen zu kümmern, die nicht in so einer Position sind.

STANDARD: Haben Sie Beispiele für Gender-Bias-Situationen in der Wissenschaft?

Winiwarter: Wenn Universitätslehrende evaluiert werden, werden Frauen signifikant schlechter bewertet – egal ob Studentinnen oder Studenten evaluieren. Warum? Weil das Anspruchsverhalten an Frauen höher ist. Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Stellen wir uns vor, eine Frau mit Kindern bewirbt sich als Laborleiterin. Da denken sich Personen mit Bias bei einer Auswahl vielleicht: "Schon bewundernswert, sie hat Kinder und bewirbt sich für die Leitung – aber wenn die Kinder krank sind und sie bei uns ‚ihren Mann‘ stehen muss, wie wird das gehen?" Bewirbt sich ein Mann, wird dieser Gedanke gar nicht gefasst. Heute spricht aber selten jemand offen aus, wenn sie oder er so denkt – Bias existiert anstelle offener Diskriminierungen.

STANDARD: Der Gender-Bias in der Wissenschaft ist sehr gut belegt. Aber gibt es womöglich gerade in der Wissenschaft weniger Bewusstsein für die Existenz von Vorurteilen, weil es nicht zum Selbstbild, objektiv zu sein, passt?

Winiwarter: Das ist der Kern des Problems. Die Wissenschaft hat als positiven Wert die Wahrheit, sie ist der Objektivität verpflichtet. Aber Wissenschaft wird von Personen gemacht, die auch Bürgerinnen, Eltern und Personalchefs sind. Sie entscheiden darüber, wer für eine Nachwuchsstelle gewählt wird, oft auch, wie viel Gehalt diese Person bekommt. Für Menschen in der Wissenschaft ist es oft besonders schwer zu begreifen, dass sie bei diesen Entscheidungen nicht als Wissenschafter und Wissenschafterinnen arbeiten und entscheiden, sondern im Rahmen ihrer gesamten gesellschaftlichen Bestimmt- und Bedingtheit. Jemanden einzustellen oder ihm Fördergelder zu bewilligen ist ja nicht dasselbe wie eine wissenschaftliche Publikation. Es wird oft angenommen, dass die wissenschaftlichen Qualitätskriterien auf diese Tätigkeiten abfärben – doch das stimmt nicht.

STANDARD: Es werden die unterschiedlichen Rollen übersehen?

Winiwarter: Ja, Entscheidende haben eine Funktion als Gruppenleiter, als Dekanin, als Institutsleiter. Sie arbeiten in einem System, von dem empirisch bewiesen ist, dass sogar in Europa bei gleich viel Studienanfängerinnen am Schluss die Hälfte der Frauen verloren ist. In all diesen Funktionen werden Entscheidungen getroffen, die diesen Effekt der Leaky Pipeline verursachen. Menschen in der Wissenschaft glauben häufig, dass sie wegen des gesicherten Wahrheitssystems, in dem sie arbeiten, keinen Bias haben. "Ich entscheide ganz objektiv", höre ich immer wieder.

STANDARD: Was kann man gegen diese Wahrnehmung tun?

Winiwarter: Wichtig ist Reflexion. Wir haben alle unbewusste Voreingenommenheiten. Auch Frauen sind nicht immun gegen Gender-Bias, weil sie in einem System männlicher Dominanz groß geworden sind. Sie übernehmen die Bewertungskriterien der dominanten Männer. Unsere Voreingenommenheit ist unbewusst und macht uns einen Strich durch das eigene Wertsystem, demgemäß wir selbstverständlich für eine egalitäre Gesellschaft sind. Mann und Frau müssen die Arbeitshypothesen über sich selbst ändern, aufhören mit der Annahme, dass Diversität selbstverständlich gut ist und daher alle Handlungen diesem Wert verpflichtet sind. Nein, das sind sie nicht. Die Handlungen, die ich setze, sind nicht nur meinen bewussten Werten verpflichtet, sondern sind von unbewussten Stereotypen beeinflusst. In dem ich mir das klarmache, bin ich einen Schritt weiter.

Verena Winiwarter: "Unsere Voreingenommenheit ist unbewusst und macht uns einen Strich durch das eigene Wertesystem, demgemäß wir selbstverständlich für eine egalitäre Gesellschaft sind."
Foto: Österreichische Akademie der Wissenschaften

STANDARD: Was kann Gender-Bias verstärken?

Winiwarter: Dazu gibt es schon viel Forschung. Stress ist ein wichtiger Faktor. Wenn die Zeit fehlt, über sich selbst, über die eigene Situation in einem Entscheidungsmoment nachzudenken, steigt jede Art von Bias. Auch wenn jene, die entscheiden, sich nicht die Zeit nehmen, die Daten, die ihnen vorliegen, in aller Ruhe zu vergleichen. Vorurteile sind eine Art Abkürzung, mit ihnen werden Entscheidungen schneller, weil die Entscheidung aus dem Bauch heraus erfolgt. Wenn für eine Entscheidung mehr Zeit zur Verfügung steht, erhöht das die Chance, gegen die eigene Voreingenommenheit anzukommen. Wir sind in der Wissenschaft aber oft unter Zeitdruck und wollen Personal- und Förderentscheidungen schnell mit Quasi-Objektivierungsverfahren erledigen. Auch Multitasking kann einen negativen Einfluss haben, in Wahrheit sind wir durch Multitasking überfordert. Wir müssten also einer Gruppe, die etwa über Förderungen entscheidet, einen ruhigen Rahmen geben, ohne Telefon, Mails oder Sonstiges. Aber dazu müsste sich in der Wissenschaft einiges ändern.

STANDARD: Zum Beispiel?

Winiwarter: Solange Erfolg danach bewertet wird, wie viele Mittel ich selbst eingeworben habe und wie viel ich selbst publiziert habe, und nicht zählt, wie gut ich mich in Bewerbungsverfahren für andere eingesetzt habe, so lange habe ich einen Anreiz, Multitasking zu machen, statt mir Zeit zu nehmen. Hier sind die Organisationen gefordert. Wenn wir perverse Anreize für die setzen, die Entscheidungen treffen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn diese Personen darauf auch entsprechend reagieren.

STANDARD: Was könnte dem entgegenwirken?

Winiwarter: Man könnte etwa Professuren nur an jene vergeben, die Gender-Bias-Trainings gemacht haben oder eine Ausbildung in Diversity-Management haben. Das verlangt derzeit niemand, das könnte aber sehr wohl verlangt werden. Auf der Ebene der Organisationsstrukturen müssen Rektoren, Dekaninnen oder Institutsleiterinnen tätig werden und die Kriterien, nach denen sie beurteilen, ändern. Meine Hoffnung ist, dass, wenn die "Datendimension" des Problems deutlich gemacht wird, wenn die Entscheidenden angeleitete Selbstreflexion gemacht haben, sie dann das Organisatorische ändern wollen.

STANDARD: Noch einmal zu den Umständen. Wird sich die Corona-Krise auch auf die Karrieren von Forscherinnen negativ auswirken?

Winiwarter: Die Vulnerabilität in Krisen ist nie gleich verteilt. Ich sage es jetzt ganz brutal: Reiche, weiße Männer müssen vor Krisen, egal welcher Art, immer weniger Angst haben. Frauen sind in der Wissenschaft durch das Leaky-Pipeline-Syndrom und allgemein den Gender-Bias in einer schwächeren Position, und deshalb trifft jede Krise des Systems sie mehr. Es kommen noch andere Systeme dazu, die Krise des Pflegesystems, des Schulsystems – diese Krisen wirken sich auf Frauen noch mehr aus als auf Männer. Deshalb wären Vertragsverlängerungen für alle wichtig, die jetzt durch Befristung in einer besonders prekären Situation sind. Hier brauchen wir eine Covid-Regel, die festlegt, dass jetzt einmal alle Verträge verlängert werden – ohne Evaluierung. Es braucht auch eine Aufwertung von Stellen im System wie den Gleichstellungsbeauftragten oder Diversity-Komitees. Für die sollte es mehr Karriereanerkennung, mehr Geld und mehr Zeit geben. (Beate Hausbichler, 30.10.2020)