"Die Lage ist ernst wie nie", sagt Andreas Reiter.

Foto: oliver wolf

Er kommt gerade von einer Videokonferenz zum Treffen im Kaffeehaus: Andreas Reiter, Zukunftsforscher mit Schwerpunkt Tourismus, reist weniger und fliegt Corona-bedingt kaum noch. Damit sind wir schon mitten im Thema.

STANDARD: Wegen Reisewarnungen liegen die Nerven im Tourismus blank. Trügt der Eindruck, oder geht es nur noch um Verlustbegrenzung?

Reiter: Die Lage ist ernst wie nie. Der Städtetourismus liegt im Wachkoma, und das schon seit Beginn von Corona. Während es die Ferienhotellerie noch überraschend gut über den Sommer geschafft hat, ist die Stadthotellerie neben dem Tagungsbereich der von der Pandemie am schlimmsten betroffene Sektor. Im Fall von Wien potenziert sich das noch, weil das Tagungs- und Kongressgeschäft hier so stark ist oder, besser gesagt, war. Denn auch das liegt am Boden. Die Reisewarnungen lassen nun auch in den Ferienregionen Schlimmes befürchten.

STANDARD: Was bisher als große Stärke von Wien galt, nämlich Gäste aus aller Welt anzuziehen, ist jetzt eine Schwäche?

Reiter: Österreichs Ferienhotellerie hätte von Wien lernen können, wie man richtig diversifiziert und nicht nur auf den deutschen und holländischen Markt schaut. So eigenartig es klingt, genau das ist jetzt nicht nur eine Schwäche, sondern für viele Stadthotels das Todesurteil, wenn nichts geschieht.

STANDARD: Warum?

Reiter: Die Märkte sind abgeschottet, niemand kann aus Asien oder Übersee nach Wien kommen, selbst wenn wer wollte. Internationale Flüge sind nach Ausbruch von Corona zusammengestrichen worden. Die australische Quantas hat hunderte Flugzeuge in der Wüste geparkt. Und sie ist nicht die einzige Fluglinie, die das macht. Städte, die weniger von internationalem Tourismus abhängig sind, wie beispielsweise Salzburg, haben es in diesem Umfeld ein bisschen einfacher.

STANDARD: Ist Besserung in Sicht?

Reiter: Das wird dauern. Prognosen zufolge ist nicht vor 2023 oder 2024 damit zu rechnen, dass die internationale Reisetätigkeit wieder halbwegs das Vorkrisenniveau erreicht. Da darf aber nichts Gröberes mehr passieren.

STANDARD: Andere sind optimistischer und verweisen auf die baldige Verfügbarkeit einer Impfung, die uns die Normalität wieder zurückgeben kann.

Reiter: Ich würde davor warnen, die Impfung als Allheilmittel zu sehen. Es sind zwar fünf, sechs Impfstoffe in der Pipeline, ob aber auch nur einer davon wirksam ist ohne schädliche Nebenwirkung, wissen wir noch nicht. Meiner Ansicht nach wird im zweiten, dritten Quartal 2021 so oder so die Wende erfolgen. Entweder wir haben bis dahin einen Impfstoff, der funktioniert, oder die Gesellschaft wird eine andere Koexistenz mit dem Virus finden müssen. Weiter so wie bisher geht nicht, das hält niemand durch. Überall baut sich schon ein Gegendruck auf.

STANDARD: Wieso die Erholung dann erst 2023 oder 2024?

Reiter: Weil die Märkte in Asien und Amerika selbst so isoliert und mit eigenen Problemen zugeschüttet sind. Bis ein Tourist aus Amerika wieder reisefähig ist und Vertrauen geschöpft hat, braucht Zeit. Dasselbe gilt für China. Innerhalb China wird zwar wieder wie verrückt gereist; bis ein chinesischer Tourist aber zu uns darf, wird dauern, weil Europa als kontaminiertes Gebiet gilt.

STANDARD: Was heißt das für die hiesige Hotelbranche?

Reiter: Es wird eine große Marktbereinigung geben, und es sind nicht nur schlechte Betriebe, die es treffen wird. Der Tourismus steht vor einer gewaltigen Redimensionierung.

STANDARD: Wie viele wird es treffen?

Reiter: Ich schätze zehn bis 20 Prozent. Große Kettenhotels stehen eine Durststrecke von zwei, drei Jahren schon durch. Aber Hoteliers, die auf sich allein gestellt sind, eventuell noch einen Schwerpunkt im Tagungsort- oder Geschäftsreisesegment haben, die werden es aus eigener Kraft kaum schaffen.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Reiter: Für die Stadthotellerie wird es in dieser speziellen Situation spezielle Förderprogramme geben müssen. Am Tourismus hängt so vieles dran, vom Bäcker, der seine Semmeln ausliefert, bis zur Albertina, die für ihre großen Ausstellungen internationale Gäste braucht.

STANDARD: Ohne Differenzierung?

Reiter: Allen, die vom internationalen Tourismus abhängig sind, soll bis Sommer 2021 befristet geholfen werden, das Schlimmste zu überstehen, etwa durch Steuernachlässe bzw. Gegenverrechnung der aktuellen Verluste mit Gewinnen der letzten Jahre. Das lässt sich relativ leicht kontrollieren. Die Ferienhotellerie wird zwar aufschreien, aber die hat andere Voraussetzungen als die vom internationalen Reiseverkehr abhängigen Stadthotels. (Günther Strobl, 28.10.2020)