Wieder einmal bemüht sich die EU, Ordnung in die europäische Asylpolitik zu bringen. Einige Mitgliedsstaaten sind stark von der Ankunft und vom Aufenthalt von Flüchtlingen betroffen. Sie fühlen sich vom Rest Europas alleingelassen und fordern europäische Solidarität ein. Andere – so gerade auch Österreich beziehungsweise die österreichische Regierung – meinen, man habe schon genug getan und man brauche nicht mehr helfen. Die Regierung ist anscheinend der Meinung, dass man auch von Solidarität und Hilfe "übersättigt" sein kann. Deutschland, das gerade den rotierenden EU-Vorsitz innehat, versucht innerhalb der EU einen Kompromiss herbeizuführen – auf Basis der jüngsten Vorschläge der EU-Kommission. Minister Seehofer möchte noch vor Jahresende eine grundsätzliche Einigung über die zukünftigen Prinzipien der europäischen Flüchtlingspolitik. Ein ehrgeiziges Ziel.

"Wir können allein nicht alle Probleme der Welt lösen, aber wir können – und sollen – unseren Teil dazu leisten", meinte einmal der ehemalige französische Premierminister und EU-Parlamentarier, Michel Rocard. Diese Aussage ist einerseits sehr pragmatisch, aber auch zugleich moralisch. Man kann sich nur wünschen, die österreichische Regierung und auch manch andere EU-Regierungen würden sich daran halten und das auch zum Prinzip der europäischen Asylpolitik machen. Leider haben auch horrende Zustände in manchen Flüchtlingslagern und der jüngste Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria die Herzen vieler sogenannter christlicher Politikerinnen und Politiker bisher nicht erweicht. Das trotz Mahnungen und Aufforderungen von namhaften Vertretern der Kirchen. Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben.

Ein neuer Pakt

Unbestritten hat gerade Österreich immer wieder in den letzten Jahrzehnten viele Flüchtlinge aufgenommen und versorgt. Das gilt nicht für alle Länder der EU. Aber die Menschlichkeit sollte nicht mit den Leistungen der Vergangenheit erledigt sein. Nun wenden manche ein, die Hilfe vor Ort sei wichtiger und die einzige Lösung des Flüchtlingsproblems. Leider ist eine solche Hilfe nicht immer möglich. Aber vor allem müssen wir feststellen, dass diese Hilfe – auch von denjenigen, die diese immer propagieren – nur sehr unzureichend gewährt wird. Weder machen wir – als Österreich und auch als Europäische Union – genug, um direkt in den Konfliktzonen einzugreifen, noch leisten wir auch in den benachbarten Flüchtlingslagern ausreichend Hilfe. Im Übrigen tragen unsere Handelsbeziehungen auch nicht immer zu einer gerechten globalen Wirtschaftsordnung bei. Darüber hinaus werden die Umweltbelastungen und die Klimaveränderungen, für die vorwiegend die reichen Länder verantwortlich sind, einen zusätzlichen Anstoß für unfreiwillige Migration geben.

Die Europäische Kommission hat also einen neuen, umfangreichen "Pakt zur Migration und zum Asyl" vorgeschlagen. Wie immer handelt es sich um ein schwer durchschaubares Konvolut von Gesetzesvorschlägen, die es im Einzelnen zu prüfen gilt. Die EU-Kommission versucht, auf die verschiedenen Strömungen, Haltungen und Widerstände in der EU einzugehen, dabei aber dem Prinzip der Solidarität innerhalb der EU zu entsprechen. Interessant ist auch der Ausgangspunkt, der die oft beschworene Gefahr der "Überfremdung" und der "Überflutung" Europas mit Flüchtlingen stark relativiert. 2019 lebten legalerweise in der EU 20,0 Millionen "Ausländer", das sind 4,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Und im selben Jahr befanden sich 2,6 Millionen Flüchtlinge in der EU, das entspricht 0,6 Prozent der Bevölkerung. Wenngleich diese Zahlen die ungleiche Verteilung nicht widerspiegeln, so relativieren sie doch die meist politisch motivierten Bedrohungsszenarien im Zusammenhang mit "Flüchtlingswellen".

Im September brannte das Flüchtlingscamp Moria nieder. Unrühmlicher Höhepunkt der EU-Flüchtlingspolitik.
Foto: AFP/ANGELOS TZORTZINIS

Aufnahme und Abschiebungen

Im Kern der Vorschläge seitens der EU-Kommission steht ein neuer Solidaritätsmechanismus. Der soll vor allem jenen Mitgliedsländern zugutekommen, die durch eine höhere Anzahl an Asylbewerberinnen und Asylbewerber finanziell und administrativ belastet sind. Vor allem haben sie auch mehr Abschiebungen jener Bewerberinnen und Bewerber durchzuführen, denen kein Asyl oder kein vorübergehender Schutz gewährt wird – hoffentlich nach einem fairen und individuell durchgeführten Verfahren.

Die Mitgliedsstaaten der EU müssen sich nun entscheiden, entweder anerkannte Flüchtlinge aufzunehmen oder jene Staaten zu unterstützen, die mit der Rückführung von nicht Aufenthaltsberechtigten betraut sind. Auch wenn jede Rückführung schmerzlich ist, so wird man keine "Lösung" der Flüchtlingsfrage finden, ohne zwischen anerkannten und jenen zu unterscheiden, denen kein Aufenthalt innerhalb der EU zugestanden wird. Entscheidend ist, wie die EU-Kommission festhält, dass jede Person eine individuelle Beurteilung erfährt und im Verfahren die fundamentalen Rechte eingehalten werden. Vor allem darf es keine Abschiebung in Länder geben, in denen sie eine Verfolgung befürchten müssen. Diesbezüglich bedarf es besonderer Aufmerksamkeit seitens jener EU-Organe und Instituten, die mit der Wahrung der Menschenrechte betraut sind.

DER STANDARD fasste die Vorschläge so zusammen: "Flüchtlinge sollen rascher aufgenommen und integriert werden, Illegale umso schneller abgeschoben werden." Man darf auf die öffentlichen Debatten und die Stellungnahmen der Regierungen gespannt sein.

Warum verhindert Österreich?

Im Unterschied zur Haltung der österreichischen Regierung, wird den Bedürfnissen der unbegleiteten Minderjährigen im vorgeschlagenen Regelwerk besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Sie sollen nicht nur besonders geschützt werden, unter anderem durch die rasche Nominierung von Vertretenden, die mit ausreichend Rechten ausgestattet sind. Es sollte auch zu einer raschen Integration ins Sozial- und Bildungssystem kommen.

Was in den Vorschlägen zu kurz kommt – so wie in den meisten EU-Vorschlägen –, ist, auf die tatsächliche und mögliche Rolle der Zivilgesellschaft einzugehen. Aber auch die vielen Gemeinden und lokalen Behörden, die trotz manch nationaler Widerstände eine hervorragende Arbeit leisten, sollte man mehr in eine europäische Flüchtlingspolitik einbinden. Es wird ja immer wieder – nicht zuletzt von konservativer Seite – vom Subsidiaritätsprinzip gesprochen. Warum verhindern aber manche Mitgliedsstaaten, im Übrigen auch Österreich, dass sich Organisationen der Zivilgesellschaft und der Gemeinden um Flüchtlinge, vor allem auch unbegleitete Minderjährige kümmern, sie aufnehmen und sich um sie sorgen? Da sollte die EU-Kommission die Mitgliedsländer an das Prinzip erinnern, dass diese immer wieder der Kommission bei manchen nicht gewollten Vorschlägen entgegen hält: Lassen wir doch die Aufgabe durch die erledigen, die das gut können und auch wollen. Aber natürlich kann die Anerkennung und Förderung dezentraler Sorge, nicht das Recht auf ein faires Asylverfahren und die Verpflichtung zu europäischer Solidarität ersetzen. (Hannes Swoboda, 2.11.2020)