Die Toten werden meistens ungekühlt über lange Strecken transportiert.

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Auf Karton werden die Gräber der angeschwemmten Leichen markiert.

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Der neue Friedhof in Zarzis soll eine würdevollere Bestattung der Menschen ermöglichen.

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Amade M'charek arbeitet im Moment auch an einem Buch über die Migrationsroute.

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Seit den 90er-Jahren sammelt Mohsen Lihidheb, was das Meer in seiner Heimatstadt Zarzis anschwemmt. Der Künstler baut im Süden Tunesiens aus Reifen, Plastikmüll und Farbe Kunstwerke. Irgendwann wurde aber nicht mehr nur Abfall angeschwemmt: Schuhe, Kleidungsstücke und schließlich Leichenteile waren die Beweise für die ansteigende Migration über die Mittelmeerroute. Immer mehr Menschen begaben sich auf den gefährlichen Weg Richtung Europa, immer mehr Menschen starben dabei. Irgendwann wollten die Fischer nicht mehr aufs Meer fahren. Im Jahr 2016 wurde irgendwann der Geruch der Toten zu heftig.

Obwohl ihre Eltern aus Zarzis stammen, erfuhr Amade M'charek in ihrem Büro an der Universität von Amsterdam von den angeschwemmten Toten erst aus den Medien. "Die Leute haben nie darüber gesprochen", erzählt die Wissensanthropologin und Professorin. Die Fischer seien mit der Rettung der Überlebenden von Schiffsunglücken beschäftigt gewesen, da sei für die Toten nicht mehr viel Zeit geblieben, erinnert sich die 53-Jährige, die zurzeit ein Emma Goldman Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien ist.

Glühende Hitze

Doch M'charek wollte den Gestorbenen Zeit widmen – ihnen ihre Würde und auch Identität wiedergeben, denn die angeschwemmten Leichen wurden von den Bewohnern Zarzis' nur schnell beerdigt. Auf einer ehemaligen Müllhalde fanden die meisten von ihnen ihr namenloses Grab. Kein Wunder, wie M'charek erzählt: "Der lokalen Bevölkerung fehlen Wissen und Mittel, um die Toten zu identifizieren." Außerdem wird es im Süden Tunesiens im Sommer glühend heiß. Da müssen die Leichen schnell entsorgt werden, denn Kühleinrichtungen gibt es nicht.

Die 2018 von M'charek gegründete Stiftung Drowned Migrant Cemetery oder Friedhof ertrunkener Migranten wird im Juni 2021 deshalb eine neue Grabstätte für die angeschwemmten Leichen eröffnen. Neben der Möglichkeit, die Toten menschenwürdig zu begraben, wird es außerdem einen Obduktionsraum mit Kühlzelle geben, wie M'charek erzählt. In ihr würden die Verstorbenen aufbewahrt, bis ein engagierter medizinischer Forensiker vor Ort die Autopsie durchführen würde. Fotografien, Spuren und vor allem entnommene DNA-Proben werden schlussendlich gesammelt und in regelmäßigen Abständen in die Hauptstadt Tunis gebracht. Bisher wurden die Leichen zum Teil auf Polizeiwagen oder gar auf Fahrzeugen der Müllabfuhr rund 200 Kilometer weit transportiert, was den Körpern natürlich schadet.

Alltag mit Leichen

M'charek erinnert sich an einen Julitag im vergangenen Jahr, als sie etwas Zeit hatte und zum Strand fahren wollte. "Schon von weitem sah ich die Menschenmenge und den Müllwagen und dachte mir: Oh Gott." 43 Tote wurden an dem Tag angespült, am nächsten Tag waren es noch mehr. Offiziell zählt das Missing-Migrants-Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) allein heuer 165 Tote in der Gegend rund um Zarzis. Und das sind nur die Unglücke, von denen Medien oder Organisationen erfahren. Teilweise sind die Toten monatelang im Wasser, bevor sie an den Strand gespült werden. Für die Bevölkerung wurden die Leichen zum Alltag.

Sobald die Arbeit in dem neueröffneten Friedhof organisiert abläuft, plant M'charek, auch bereits begrabene Tote zu exhumieren, um ihre Identitäten festzustellen – denn in den Massengräbern würden Menschen liegen, die von ihren Familien irgendwann vermisst werden, sagt die Anthropologin und erzählt von zwei niederländischen Polizisten, die mit ihr im Zusammenhang mit dem Schicksal einer syrischen Familie Kontakt aufgenommen haben.

"Die Familie war über das Mittelmeer nach Italien gekommen", so die 53-Jährige: "Zuerst die Mutter mit zwei Kindern und dann der Vater mit einem Sohn und einer Tochter." Bei der Überfahrt des Vaters war das Boot gekentert, die Tochter ins Meer gefallen – er wollte noch nach ihr greifen, doch sie war verschwunden. "Wir wissen, dass nach dem Unglück 54 Leichen in Zarzis angeschwemmt und ohne Identifizierung eingegraben wurden", sagt M'charek. Darunter könnte eben auch die vermisste Tochter sein.

Buch über Migration

Für die Identifizierung der Toten der Mittelmeerroute wünscht sich M'charek mehr politischen Willen und finanzielle Mittel. Zu viele seien es bereits, deren Schicksal nicht geklärt wurde. Bis dahin will ihnen die Wissensanthropologin ein Gesicht geben. Zurzeit arbeitet sie gemeinsam mit dem tunesischen Künstler Mohsen Lihidheb an einem Buch über die angeschwemmten Stücke und Menschen in Zarzis, den "Müll der Migration", wenn man so will. (Bianca Blei, 1.12.2020)