Der Public-Health-Experte und Umweltmediziner Hans-Peter Hutter sagt, die Corona-Pandemie habe "Schwachstellen unserer Gesellschaft" entlarvt, nämlich: "Dass es für einen gewissen Teil der Bevölkerung praktisch nicht möglich ist, im Sinne eines Beitrages zum Schutz der Allgemeinheit über einen längeren Zeitraum einfachste Maßnahmen – Händewaschen, einen Meter Mindestabstand, Maske in bestimmten Bereichen – durchzuhalten."

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Hinweistafel in einer Münchner Fußgöngerzone.

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Wenn er nicht gerade die Corona-Pandemie beforscht oder erklären muss, wirft sich Umweltmediziner Hans-Peter Hutter auch jetzt regelmäßig mit dem Skateboard in Betonpools. "Wichtig ist in Belastungssituationen, dass man sich selber einen Entspannungsraum schafft", sagt der Public-Health-Experte: "Sich bewegen, egal wie, Hauptsache, es macht Spaß, das will ich allen mitgeben." Das Interview findet in seinem Büro im 5. Stock statt. Den Lift benutzt er bewusst oft nicht. Alltagsbewegung! In seinem Büro steht das Fenster offen. Lüften! Auf dem Schreibtisch liegt eine bunte Gesichtsmaske. Immer dabei! Praktischerweise gibt es im Zimmer ein Waschbecken: Handhygiene! Über einem Sessel hängt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Keine Angst".

STANDARD: Österreich ist durch die erste Phase der Corona-Pandemie im Frühjahr samt Lockdown eigentlich wirklich gut durchgekommen – und jetzt stolpern wir quasi über unsere eigenen Füße und jagen die Infektionskurve steil nach oben, als ob nie was gewesen wäre. Was ist da passiert?

Hutter: Wir waren ein – wenn nicht das – europäische Vorzeigeland. Aber mit Fortdauer der Epidemie, der Belastung und dem Auftreten von immer mehr gesellschaftlichen, persönlichen Problemen sinkt die Compliance, die Nachlässigkeit steigt, viele sind genervt.

STANDARD: Jetzt sind wir genau dort, wo wir nie hinwollten – im steilen Aufwärtsteil der exponentiellen Infektionskurve. Wann ist das gekippt?

Hutter: Bei den Spitalsaufnahmen ist es sogar überexponentiell. Die Anfangsursache war der Reiseverkehr, der uns das eingebracht hat. Da ist es schwieriger geworden mit der Identifizierung der Kontaktpersonen. Und es ist die Dauer: Menschen stumpfen ab, sie verlieren das Risikobewusstsein beziehungsweise Gefühl der Gefahr, und der Tanz auf dem Vulkan beginnt. Durch die Lockerung der Maßnahmen hat sich kein Automatismus eingestellt, etwa was das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes betrifft. Den Automatismus braucht es aber. Verspielt haben wir das in erster Linie damit, dass es ein Auf und Ab gab: Zuerst mussten die Masken im Supermarkt getragen werden, dann nicht mehr, jetzt wieder. Da fragen sich alle: Wofür ist das denn? Dann gab es die Verwirrung um bestimmte lokale Maßnahmen, hier das, dort etwas anderes. Dazu kamen der immer heftiger werdende politische Diskurs und natürlich das Auftreten von Corona-Leugnern und Maßnahmengegnern.

STANDARD: Ist ein Grund, dass wir heute da sind, wo wir sind, das berühmt-berüchtigte Präventionsparadox? Eben weil die Präventionsmaßnahmen funktioniert haben und das große Drama verhindert wurde, glauben jetzt viele: Na, seht ihr, es ist ja gar nicht so schlimm ... Warum sollen wir jetzt weiter auf irgendwas verzichten?

Hutter: Ja, leider. So ist es. Im Sommer hatten wir immer Infektionszahlen unter 100. Wenn man immer mit 40, 20, 30 oder 70 Neuinfektionen konfrontiert ist, fragen sich alle, wofür ist das noch gut? Aber wenn man zum Zahnarzt geht und der sagt: "Sie haben keine Karies", dann putzt man ja doch weiter die Zähne und hinterfragt nicht, warum man kariesfrei ist, sondern man kann nur sagen: Wow, die Maßnahmen wirken, fein, ich mach’s weiter. Das existiert auf dieser Pandemie-Ebene nicht, weil man zu wenig erklärt hat, dass Vorsorge genau das ist, was die Fallzahlen niedrig hält. Solange das Virus noch zirkuliert, muss man Vorsorge betreiben. Das hat man den Menschen nicht ausreichend klarmachen können.

STANDARD: Ihre Kollegin an der Med-Uni Wien, die Virologin Elisabeth Puchhammer-Stöckl, hat unlängst vor einem "Kontrollverlust" gewarnt. Haben wir die Kontrolle noch?

Hutter: Wir stehen auf der Kippe, ehrlich gesagt, das würde ich schon sagen: Es droht Kontrollverlust. Denn wenn man das Contact-Tracing und die Nachverfolgung der Infektionsketten nicht mehr schafft – wie in einigen Regionen –, dann hat man die Kontrolle verloren.

STANDARD: Sind wir demnach auf dem Weg in einen zweiten Lockdown?

Hutter: Nein, es kann auch anders gehen. Wir haben es wirklich in der Hand, hier auch als Einzelpersonen gegenzusteuern. Ich will einfach nicht glauben, dass wir das, was watscheneinfach ist, was kinderleicht umzusetzen ist, in den nächsten Wochen nicht schaffen, damit diese Welle wieder in sich zusammenbricht. Wir brauchen nur die einfachen Grundregeln einhalten, die in den letzten Monaten wirklich mantraartig über alle Kanäle weitergegeben wurden, und jeder Einzelne kann beitragen, indem er oder sie die Kontakte mit Menschen außerhalb der Familie reduziert. Ja, das sind auch Einschnitte, aber es sollte doch Motivation sein, daran zu denken, dass wir angesichts der herausfordernden Lage so mit einfachen Mitteln zu weiten Teilen ein "normales" Leben aufrechterhalten können.

STANDARD: Wiederholen wir noch einmal die watscheneinfachen Dinge.

Hutter: Hände waschen, Abstand halten und, Achtung, die Maske dort – richtig – aufsetzen, wo man den Abstand nicht einhalten kann, plus Lüften der Innenräume. Das würde reichen, um einen Lockdown zu verhindern. Und was einen Lockdown noch verhindert, ist das konsequente Contact-Tracing. Es muss gelingen, die Kontaktpersonen eines identifizierten Virusausscheiders möglichst lückenlos zu bestimmen, um sie in Quarantäne schicken zu können. So verhindert man den exponentiellen Anstieg. Es gehen natürlich immer welche durch die Lappen, weshalb man die Zirkulation des Virus nicht ganz verhindern kann, aber man kann sie entscheidend einschränken. Da bekommen wir jetzt schon die Rechnung für die Gesundheitspolitik der Vergangenheit präsentiert. Man hat in den letzten 30 Jahren das öffentliche Gesundheitswesen wenig geschätzt und nach und nach personell ausgedünnt. Dass es für die Infektionskontrolle und Infektionsmanagement da ist, war den meisten egal. Ich habe als Physikatsarzt (Allgemeinmediziner im öffentlichen Gesundheitsdienst bzw. Amtsarzt, Anm.) selbst mitbekommen, dass viele, die in Pension gegangen sind, nicht nachbesetzt wurden. Das rächt sich jetzt. Wenn die Gesundheitsbehörden jetzt überlastet sind, dann sind das auch Folgen einer Misswirtschaft im öffentlichen Gesundheitswesen. Und auch jetzt hat man vernachlässigt, rechtzeitig aufzustocken und Personal als Contact-Tracer auszubilden. Wenn wir sehen, dass die ersten Regionen bereits jetzt kapitulieren, ist das kein gutes Zeichen. Da ist der Damm gebrochen, es gibt eindeutig zu wenig Ressourcen.

STANDARD: Hoteliers in Tirol haben kürzlich – aus wirtschaftlichen Gründen – eine Art "Lockdown light" gefordert, um die Infektionszahlen zu senken und die Reisewarnungen wegzubekommen. Könnte ein zeitlich wie lokal beschränkter Lockdown auch aus epidemiologischer Sicht sinnvoll sein, um die Zahlen zumindest so weit zu drücken, dass die Test- und Tracing-Maßnahmen wieder greifen können? In Österreich könnten zudem die Oberstufen nach den Herbstferien nach Allerseelen ins Homeschooling geschickt werden. Würde das etwas bringen?

Hutter: Aus meiner Sicht ist es so, dass man zunächst alle anderen Maßnahmen ausreizen sollte, die noch möglich sind. Und ich gehe noch immer davon aus, dass das funktionieren kann, wenn es gelingt, das so zu kommunizieren – nicht nur von der Politik, denn die hat mittlerweile wohl viel Vertrauen verspielt –, dass es glaubwürdig ist. Dazu bräuchte es eine Instanz, kompetent und unabhängig vom politischen Hin und Her. Denn sonst laufen wir Gefahr, dass egal, was gesagt wird, politisch ausgefightet wird. Kindergärten und Schulen sollten so lange und so weit wie möglich offen gehalten werden. Das ist eine ganz wichtige Frage, weil daran gesellschaftlich viel geknüpft ist, speziell hinsichtlich Belastungssituationen etwa für die Eltern und damit verbundene "Kollateralschäden". Und ob es angesichts der Maßnahmen in den Ländern um uns herum, aus denen allenfalls Touristen kommen könnten, sinnvoll ist, Maßnahmen zu treffen, die diese animieren könnten, nach Österreich zu kommen, halte ich für mehr als fraglich, das ist vielleicht eine naive Vorstellung.

STANDARD: Fehlt uns in Österreich eine Einrichtung wie zum Beispiel das Robert-Koch-Institut (RKI) in Deutschland?

Hutter: Das RKI ist eine Bundesbehörde mit etwa 1.100 Mitarbeitern. Die Ages in Österreich hat 1.400 Mitarbeiter, jedoch sind diese mit vielen anderen Aufgaben als dem Infektionsschutz befasst, während das RKI sich auf die Aufgabe der Bekämpfung übertragbarer und nicht übertragbarer Krankheiten konzentrieren kann. Dennoch war auch das RKI nicht in der Lage, die Bevölkerung hinter sich zu bringen, nicht zuletzt deshalb, weil es hinsichtlich der Maßnahmen keine klare Linie hatte. Man bräuchte eine Institution, der man keine politischen Interessen nachsagen kann. Man braucht dafür eine unabhängige, für die Bevölkerung glaubwürdige Instanz, die den Sinn der Maßnahmen, der den Menschen abhandengekommen ist, beharrlich und verständlich rüberbringt.

STANDARD: War das ein Fehler in der politischen Corona-Kommunikation in Österreich, dass man Wissenschafterinnen und Wissenschafter zwar im Hintergrund und im Krisenstab eingebunden hat, aber öffentlich verkündet hat die Maßnahmen fast ausschließlich das vermeintliche "virologische Quartett" aus Kanzler, Vizekanzler, Gesundheits- und Innenminister, das aber eben kein virologisches, sondern ein politisches Quartett ist?

Hutter: Höchstwahrscheinlich, auch wenn es ein paar Auftritte mit Experten gab. Dieses Quartett hat wohl den meisten Unmut hervorgerufen beziehungsweise ist ein "Symbol" dafür geworden, und damit wurde sehr vieles, was tatsächlich mit Experten ausgehandelt wurde, in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen, dass es wissenschaftlich begründete Maßnahmen sind. Aber insgesamt ist es auch tatsächlich schwierig, diesen Sachverhalt im "Druckkochtopf" aus komplexen wissenschaftlich-medizinischen Zusammenhängen, Unsicherheiten aufgrund der enormen pandemischen Dynamik und einer emotional sehr aufgeladener Stimmung zu kommunizieren. Aber jetzt haben wir eine neue Situation, und da sollte man halt auch die Kommunikation beinhart neu aufziehen.

STANDARD: Was ist falsch gelaufen in der politischen Kommunikation?

Hutter: Alles ist sicherlich nicht ideal gelaufen. Aber man muss auch allen, die damit zu tun haben, ob Politik oder Administration, zugestehen: Es ist eine sehr schwierige Aufgabe. Es ist ein sehr dynamisches Geschehen, es ändert sich sehr rasch etwas, es ist etwas, mit dem wir auch als Kollektiv wenig Erfahrung haben, dementsprechend ist es laufend neu generierte Erfahrung und neues Wissen. Da kommt es zwangsweise zu Mängeln, Fehlern, Ausrutschern. Wichtig wäre jetzt, dass wir einen Weg suchen in der Kommunikation, diese zwei Extreme, die wir vor uns haben, viel stärker zu berücksichtigen. Wir haben jene, die sehr verängstigt sind und sich praktisch kaum mehr im öffentlichen Raum bewegen, und die anderen, die von Sorglosigkeit und Leichtsinn beziehungsweise Ignoranz geprägt sind. Wir müssen es schaffen, dass die meisten, die noch erreichbar und "in der Mitte" sind, die einfachen und vernünftigen Maßnahmen nachvollziehen können. Das ist das Wichtigste. Man darf nicht verharmlosen, man darf aber auch nicht sagen: Alle werden jemanden kennen, der bald unter der Erde ist ...

STANDARD: Wie viele Unverbesserliche, Ignorante oder "Corona-Leugner" kann eine Gesellschaft im Pandemiestress "aushalten" und trotzdem das Virus zumindest in Schach halten?

Hutter: Das ist eine wichtige Frage, aber schwer zu beantworten. Was wir wissen, ist, dass es nicht viele sind, die wenige anstecken, sondern es sind wenige, die viele anstecken. Wenn man einige wenige Unverbesserliche hat, wie etwa die zwei Französinnen, die nach Island fahren, getestet werden, Covid-19-positiv sind und trotzdem feiern bis Mitternacht und letztlich eine Kette von 900 infizierten Personen verursachen – das ist bei einem 300.000-Einwohner-Inselstaat eine enorme Anzahl –, dann ist das ein perfektes Beispiel für eine unverantwortliche Kopflosigkeit und Unverschämtheit.

STANDARD: Spricht das alles nicht eher gegen das hochgelobte Prinzip Eigenverantwortung? Ist das vielleicht doch nicht die große Stärke von vielen, zu vielen Menschen? Oder braucht man jetzt zum Law noch mehr Order?

Hutter: Es ist knifflig. Wenn ich Landeshauptmann Schützenhöfer höre, der sagt, man müsste mit der Polizei auch in Privaträumen kontrollieren können, dann sehe ich hier eine rote Linie überschritten und die Gefahr, dass es eher einen Aufschrei von vielen nach sich zieht, die sich noch daran gehalten hätten, aber dann sagen, das lasse ich mir nicht gefallen, das ist mir zu viel. Man muss aber auch sagen: Nur auf die Eigenverantwortung zu pochen ist aus meiner Sicht dahin, das sieht man an allen Ecken und Enden an vielen Beispielen. Das funktioniert nicht. Man braucht eine gute Mischung. Aber man darf nicht aufhören zu sagen: Bitte, es hängt wirklich nur an uns! Und da hat die Krise unsere Schwachstellen entlarvt. Wir sind keine wirklich solidarische Gesellschaft, jeder ist sich selbst der Nächste.

STANDARD: Welche Schwachstellen?

Hutter: Die Schwachstellen unserer Gesellschaft. Dass es für einen gewissen Teil der Bevölkerung praktisch nicht möglich ist, im Sinne eines Beitrages zum Schutz der Allgemeinheit über einen längeren Zeitraum einfachste Maßnahmen – Händewaschen, einen Meter Mindestabstand, Maske in bestimmten Bereichen – durchzuhalten. Das ist entmutigend, wenn ich daran denke, was wir dann zum Beispiel gegen die Klimakrise ausrichten sollen? Deren Bewältigung verlangt uns als Gesellschaft noch deutlich mehr Commitment ab und erfordert langfristig Bereitschaft zum Wohl aller, neue Wege zu gehen und kreative Lösungen zu finden.

STANDARD: Die Corona-Kommunikation ist auch eine Herausforderung für die Wissenschaft. Sie ist durch die Pandemie in eine neue Rolle gekommen. Sie kommuniziert mit der Politik, aber auch mit der Öffentlichkeit. Viele wollen das nicht machen. Verstehen Sie Kollegen, die zwar im Off reden, aber lieber nicht zitiert werden wollen?

Hutter: Da gibt es viele Überlegungen, warum man lieber sagt: "Das sage ich Ihnen so, aber bitte ohne meinen Namen." Es kommt auf das Thema an, die Fragestellung, wie sicher ist man sich aufgrund der Datenlage wirklich. Man darf nicht vergessen, als im Jänner die ersten Daten zu dem neuen Coronavirus bekannt wurden, wusste man darüber so gut wie nichts, inzwischen sind 62.000 wissenschaftliche Publikationen dazu erschienen, es ist unmöglich, da die Übersicht zu behalten. Wir haben innerhalb kurzer Zeit enorm viele Erkenntnisse, aber jede neue Erkenntnis wirft wieder neue Fragen auf, es sind daher mindestens so viele Fragen offen wie vorher. Der andere Punkt ist, dass der Diskurs innerhalb der Wissenschaft zum großen Teil zum Erliegen gekommen ist beziehungsweise stark eingebremst wurde. Der passiert normalerweise im Hintergrund, das sind Foren, Meetings, Kongresse und Konferenzen. So läuft eigentlich die Wissenschaft ab, im Grunde nicht richtig sichtbar für die Öffentlichkeit. Wegen Corona läuft das heute anders, denn Veranstaltungen dieser Art finden nicht mehr statt. Dadurch werden einige Wissenschafter jetzt ermutigt, mit gewissen Positionen an die Öffentlichkeit zu gehen, ohne dass diese im Wissenschaftskontext diskutiert worden wären. Wir haben daher mittlerweile viele Meinungen, die dazu führen, dass es noch mehr Verwirrung gibt. Soziale Netze und neue Publikationsformen, die keiner kollegialen Kontrolle unterliegen, führen zu einer rasanten und globalen Verbreitung solcher Einzelmeinungen, und es entsteht dadurch der Eindruck, dass sie fundiert sind.

STANDARD: Diese Verwirrung entsteht auch, weil für die Bevölkerung oft nicht erkennbar ist, ob eine Person, die sich öffentlich zu Corona äußert – womöglich quer zu den Aussagen der eigentlichen wissenschaftlichen Fachgesellschaften – jetzt wissenschaftliche Erkenntnisse referiert oder doch nur eine persönliche Meinung, die aber vielleicht durch ein medizinnahes Studium vermeintlich beglaubigt wird.

Hutter: Ja, das ist für die Bevölkerung praktisch überhaupt nicht einzuschätzen. Diese Personen sagen dann oft etwas, das die eigentlichen Fachgremien nicht sagen würden. Kein Allgemeinmediziner würde gehirnchirurgisch arbeiten, aber bei der Corona-Pandemie ist es so, dass praktisch jeder, der glaubt, addieren und eine kleine Grafik lesen zu können, sich für einen Epidemiologen halten darf. Das ist eine völlige Unterschätzung dieses Fachgebiets. Da muss ich schon sagen: Es ist halt doch ein bissl komplexer, als Einzelne vielleicht glauben. Das gilt im Übrigen auch fürs Wellenreiten oder für viele andere Sportarten, die im Fernsehen leicht ausschauen.

STANDARD: Wie damit umgehen?

Hutter: Es gibt da nicht nur die Verantwortung der Personen, die zu einem Thema sprechen, sondern auch der Medien, die sich fragen müssen: Was ist Wissenschaft? Wen lädt man ein? Da schau ich mir schon einmal die Publikationsliste an, das Curriculum, hat der dazu überhaupt etwas gemacht? Wie fremd ist sein Fachgebiet? Das ist schon auch eine Frage der medialen Darstellung. Und ich möchte das nicht nur auf diese Pandemie beziehen, sondern leidgeplagt auch auf die Klimawandelskeptiker verweisen. Die wurden medial oft so dargestellt, als ob der Anteil zu den Nichtklimaskeptikern fifty-fifty wäre. Man "diskutierte" in Duellformaten eins zu eins – und die Optik nach außen war: Ah, da streiten sich zwei auf derselben Ebene, und daraus folgt, so sicher ist es wirklich nicht. Dass die Evidenzlage ganz anders aussieht, war auch hier im Verborgenen. Das wiederholt sich bei jedem brisanten Thema.

STANDARD: Ähnliche Erfahrungen schildert der deutsche Virologe Christian Drosten, der seit vielen Jahren das Coronavirus beforscht. Er sagte: "Ich bin zwar Virologe, würde mich aber nie zum Beispiel über das Herpes-Virus äußern – weil ich darüber nicht arbeite." Es gebe aber einige Forscher, die ihre Meinung zu Corona abgeben, "und dann kommt es zu Verwirrung und Verflachung. Daher entsteht in der Öffentlichkeit die falsche Wahrnehmung, die VirologInnen seien sich nicht einig. Aber das stimmt nicht. Die Virologen, die sich mit dem Thema auskennen, sind sich einig. Aber es gehen Virologen in die Öffentlichkeit, die nicht aus diesem Fachgebiet stammen. Und dadurch kommt es zu vermeintlichen Streitigkeiten."

Hutter: Ja, so ist es. Und das ist jetzt nur innerhalb der Virologie. Aber es gibt ja einen Fächerkanon, der deutlich größer ist. Schon innerhalb der Virologie hat man das Problem. Wenn etwa ein praktischer Arzt Maskenatteste ausstellt, allerdings ohne die Patienten überhaupt zu sehen, der wird sich zwar etwas mit Erkältungskrankheiten auskennen, ist aber klarerweise absolut kein Infektiologe, erklärt aber plötzlich den Virologen – und der Bevölkerung – die Welt. Es geht nicht darum, jemandem den Mund zu verbieten, sondern es geht darum, das auf einer konstruktiven Ebene zu besprechen – in der Wissenschaft ist das so –, ohne dass man einen Riesen-Bohei macht und noch mehr Verwirrung stiftet und gewisse Gruppen, die sogenannten Corona-Skeptiker, bedient, die zu bequem sind, ihr Verhalten etwas solidarischer zu gestalten.

STANDARD: Große Aufmerksamkeit hat da auch die "Great-Barrington-Erklärung" bekommen, verfasst von drei Wissenschaftern der Unis Oxford, Stanford und Harvard. Sie kritisieren die "Lockdown-Politik", weil sie sagen, sie würde die "Unterprivilegierten" und junge Menschen am stärksten betreffen und enorme Kollateralschäden verursachen: "Unser Ziel sollte daher sein, die Mortalität und den sozialen Schaden zu minimieren, bis wir eine Herdenimmunität erreichen." Dazu sollten alte Menschen besonders geschützt werden, alle anderen, "die ein minimales Sterberisiko" durch Covid-19 haben, aber quasi wieder ohne Einschränkungen leben können. Was sagen Sie als Public-Health-Experte, der diese Folgen von Pandemiemaßnahmen ja auch immer im Auge hat, dazu, wenn Corona-Maßnahmen-Kritiker sagen, die Kollateralschäden von Maske und andere Maßnahmen seien ja der viel größere, eigentliche Schaden?

Hutter: Das eine ist: Wir wollen alle keinen zweiten Lockdown, und dazu gibt es die Möglichkeiten, die wir in der Pandemiebekämpfunge kennen. Also man bräuchte über einen zweiten Lockdown gar nicht reden, wenn es hier ein ganz klares Commitment gibt, dass man die Präventionsmaßnahmen konsequent einhält. Das Zweite ist: Herdenimmunität ist ja ein schöner Wunsch, aber für Österreich hieße das, dass mindestens vier Millionen Menschen die Infektion durchmachen müssten. Da weiß man jedoch, dass das Gesundheitssystem kollabieren würde, denn es ist vollkommen hirnrissig anzunehmen, man könnte die vulnerablen Gruppen, und das sind beileibe nicht nur die älteren Menschen, gewissermaßen aus der Öffentlichkeit entfernen. Doch schon viel früher, weit bevor die Schwelle der Herdenimmunität erreicht wäre, würden die vorhandenen Kapazitäten zur effektiven Behandlung erschöpft sein. Jeder und jede von uns erwartet, wenn er oder sie ins Spital kommt, eine rasche und optimale Versorgung. Die würde es jedoch längst nicht mehr geben. Wenn wir aber nicht wollen, dass wir oder unsere Angehörigen auf einem Gangbett liegen oder überhaupt nach Hause geschickt werden, dann müssen wir uns auch entsprechend verhalten. Denn wir haben zwar im Vergleich zu anderen Ländern ein sehr gutes, bestens ausgebautes Gesundheitssystem, aber auch das kann eine solche Last nicht stemmen. Das sollte allen klar sein.

STANDARD: Wenn Sie eine Corona-Botschaft an die Bevölkerung richten müssten, wie würde die lauten?

Hutter: Bitte, das ist doch nicht so schwer! Und wenn wir ein bisschen zusammen- und durchhalten, dann ersparen wir auch vielen anderen Leid oder ein schweres Leben – entweder jenen, die auf der Intensivstation landen, oder jenen, die arbeitslos werden. Denen allen können wir mit unserem Verhalten helfen. (Lisa Nimmervoll, 29.10.2020)