Sabine Stiller ist Inneneinrichterin in Hamburg sowie Buchautorin.
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Sabine Stiller: "Aus 4 Zimmern mach 6 Räume. Wohnkonzepte für Familien".
192 Seiten, € 39,10. Prestel, 2020.
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STANDARD: Wie viele Quadratmeter braucht eine Familie mit zwei Kindern mindestens?

Stiller: Ich würde sagen: 70. Wobei es natürlich immer auf die Ansprüche ankommt und auf die Aufteilung der Zimmer. Wenn etwa ein Flur viel Platz einnimmt, wird es knapp. Die meisten Familien, die sich an mich wenden, wohnen auf 80 bis 100 Quadratmetern und haben das Gefühl, dass ihnen ein Zimmer fehlt.

STANDARD: Ihr Planungsbüro heißt 4 Zimmer 6 Räume. Wie haben Sie festgestellt, dass es diesen Bedarf gibt?

Stiller: Meine Familie war vor 15 Jahren selbst in der Situation. Wir mussten unser Schlafzimmer aufgeben, weil die Kinder mehr Platz gebraucht haben – also haben wir in unserer Wohnung neu kombiniert. Später sind genau diese Bedürfnisse auch bei befreundeten Familien aufgetaucht. So ist die Idee entstanden, dass ich als Einrichtungsberaterin dort ansetze, wo die Probleme in Großstädten liegen – nämlich bei den Familienwohnungen.

STANDARD: In welchem Lebensabschnitt befinden sich Ihre Kunden?

Stiller: Meist ist es der Zeitpunkt, an dem das erste Kind in die Schule kommt. Es braucht dann ein eigenes Zimmer, aber dafür ist kein Platz. Doch die Familien wollen auch nicht an den Stadtrand oder ins Umland ziehen – denn im Zentrum haben sie Freunde, dort liegt der Kindergarten, es gibt tolle Geschäfte. Meine Kunden leben sehr urban und wollen das nicht verlieren. Daher sind sie bereit, in die schon vorhandene Wohnung zu investieren. Bei Mietwohnungen eher vorsichtiger, hier arbeite ich vermehrt mir Raumteilern oder zweiten Ebenen. Im Eigentum sind auch größere Umbauten und Installationen möglich.

STANDARD: Was sind die häufigsten Fehler in Wohnungen, in denen der Platz nicht ideal genutzt wird?

Stiller: Oft stehen in einem Raum ganz viele verschiedene alte Einzelmöbel – es ist ein richtiges Sammelsurium. An manchen dieser Stücke hängen die Bewohner auch sehr. Und sie glauben, dadurch schaffen sie Stauraum. Doch in Wahrheit wirkt das Zimmer vollgestellt. Hier sollte man es erst einmal leer räumen und dann Stauraumlösungen finden, die homogener in den vorhandenen Raum eingepasst werden können – schon wirken die Zimmer großzügiger.

STANDARD: Was sollte man also bedenken, bevor man (neu) einrichtet?

Stiller: Viele denken in den Begrifflichkeiten des Grundrisses wie Schlafzimmer, Wohnzimmer, Kinderzimmer. Davon sollte man sich freimachen und eher überlegen, welche Eigenschaften welcher Raum hat. In hellen sollte man sich tagsüber aufhalten, in dunklen eher nachts. Außerdem sollte man sich nicht überlegen, welche Zimmer man braucht, sondern welche Nutzung benötigt wird. So kann man mehrere Bedürfnisse in einem Raum kombinieren.

STANDARD: Zum Beispiel?

Stiller: Das Schlafzimmer ist ja den ganzen Tag über ein ungenutzter Raum, hier kann man sich eine zweite Nutzung einfallen lassen und zum Beispiel einen Arbeitsbereich einrichten und ihn dann hinter einem Vorhang oder einer Schiebetür verstecken. Natürlich will nicht jeder im Schlafzimmer auch sein Arbeitszimmer haben, für viele ist es aber beispielsweise okay, in der Küche auch zu wohnen und zu arbeiten, wenn diese zur Wohnküche umgebaut wurde. Ich bespreche mit meinen Kunden ihre ganz unterschiedlichen Bedürfnisse, und wir überlegen dann, wo wir welche Räume kombinieren. Das hängt ja auch davon ab, wo es Möglichkeiten der Verlegung von Installationen gibt – für eine zusätzliche Wand oder einen Kleiderschrank als Raumteiler. Dann verlegen wir etwa das Bad – oder die Küche kommt dorthin, wo vorher das Wohnzimmer war oder ein breiter Gang.

STANDARD: Oder das Schlafzimmer ins Wohnzimmer?

Stiller: Ja, auch das machen wir. Wir bauen etwa eine Art Kubus in den Wohnraum, in dem sich die Schlafnische versteckt. Es reicht aber auch eine Raumteilerlösung in Form eines Regals oder eines leichten Vorhangs. Wichtig ist, dass Freunde, die zu Besuch kommen, nicht gleich aufs Bett schauen können – die Privatsphäre soll ja gewahrt bleiben.

STANDARD: Sollte es für einen guten Schlaf im Schlafzimmer nicht so wenig Ablenkung wie möglich geben? Wie geht das, wenn im Wohnraum geschlafen wird?

Stiller: Das widerspricht sich gar nicht. Wenn ich zum ersten Mal in eine Wohnung komme, herrscht im Elternschlafzimmer oft das Chaos. Dabei brauchen gerade die Eltern, die den ganzen Tag im Familienleben keine Ruhe haben, einen Rückzugsort zum Abspannen. Genau das versuche ich zu schaffen. Etwa in so einem Kubus achten wir darauf, dass man sich nur mit schönen Dingen umgibt. Dort ist kein Platz für Kleiderständer et cetera.

STANDARD: Braucht jeder Bewohner einen Rückzugsort?

Stiller: Ja. Auch Kinder haben das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Das muss nicht unbedingt ein eigener Raum sein, da reichen auch kleine Bereiche. Prinzipiell hat jeder hat das Recht, für sich sein zu wollen.

STANDARD: Im Prinzip geht es also um flexible Wohnungen?

Stiller: Ja. Das Leben mit Kindern verändert sich ständig. Vom Kindergarten zur Schule bis in die Pubertät – immer wieder gibt es einen anderen Alltag und andere Tagesabläufe. Sind die Kinder klein, sind morgens alle gemeinsam im Bad und gehen gleichzeitig aus dem Haus. Später macht das jeder einzeln. Hier muss man im Familienleben flexibel bleiben und sich ständig auf neue Lebenssituationen einstellen. Das gilt auch für die Wohnung, ansonsten ist Unzufriedenheit die Folge.

STANDARD: Welche Tipps haben Sie für alle, die sich in der Pandemie ein Homeoffice eingerichtet haben?

Stiller: Wesentlich ist die Frage, ob man tagsüber allein ist, während man arbeitet. Wenn ja, reicht ein abgeteilter Raum, und man kann prinzipiell in jedem Zimmer arbeiten. Sind aber die Kinder daheim, sollte das Homeoffice so gestaltet sein, dass man eine Tür hinter sich zumachen kann.

STANDARD: Welche Rolle spielt Ausmisten?

Stiller: Es kommt ganz auf die Familie an. Häufig ist es ein Problem, weil sich viel angesammelt hat und die ganze Wohnung voll ist. Dann ist Ausmisten zielführend. Vor allem mit Kindern kommen Jahr für Jahre viele neue Dinge hinzu. Hier ist mein Rat an die Kunden, sich zu überlegen: Worauf können wir verzichten?

STANDARD: Ist trotzdem noch Platz für Deko?

Stiller: Man muss keinesfalls komplett darauf verzichten. Für Gegenstände, die einen glücklich machen, oder Urlaubsmitbringsel gibt es immer offene Flächen, in denen Platz dafür ist. Aber natürlich schafft geschlossener Stauraum mehr Ruhe, es sieht einfach aufgeräumter aus.

STANDARD: Müssen diese Wohnungen also perfekt durchorganisiert sein?

Stiller: Nein, es bleibt immer auch Raum für Chaos. Ich möchte keine Ausstellungsräume schaffen, sondern ein Zuhause für die Familien.

STANDARD: Wenn die Kinder irgendwann ausgezogen sind, hat man die Wohnung wieder für sich. Folgt dann der Rückbau?

Stiller: Ich habe schon spaßeshalber gesagt, dass ich in zehn bis 20 Jahren ein zweites Buch über Rückbauaktionen schreiben werde. Es stimmt natürlich, dann nimmt man sich die Räume wieder zurück und kann darin wohnen, wie man möchte. Natürlich wird man eine umgebaute Wohnküche nicht rückbauen – warum auch –, aber Trennwände, Vorhänge oder ein Kubus lassen sich wieder entfernen.

STANDARD: Und viele werden dann wohl froh sein, dass sie nicht umgezogen sind, als sie mehr Platz gebraucht haben.

Stiller: Ja. Wir wissen ja, dass viele ältere Menschen oft ganz verloren in großen Einfamilienhäusern am Stadtrand oder auf dem Land leben, in denen viel zu viel Platz für sie allein ist. Spätestens dann hat sich die Investition in die "kleine" Wohnung im Zentrum gelohnt. (Berndette Redl, 7.11.2020)