Gut möglich, dass sich Angela Merkel den Spätherbst ihrer langen politischen Karriere ganz anders vorgestellt hat. Die geordneten Verhältnisse, in denen sie Europas größte Volkswirtschaft nach eineinhalb Jahrzehnten Kanzlerschaft eigentlich hatte übergeben wollen: aus und vorbei. Noch nicht einmal ein Nachfolger – auch eine Folge von Corona – steht parat. Anstelle von "Exportweltmeisterschaft", "Energiewende" und "Eurostärke" dreht sich ihr politisches Vokabular dieser Tage um durchwegs schmerzhafte Themen, "Intensivstationen" etwa, "Überlastung" oder "Corona-Tote".

Vermutlich hat sich Angela Merkel die Verhältnisse in denen sie Deutschland ihrem Nachfolger übergibt anders vorgestellt.
Foto: EPA

Statt blühender Landschaften droht Deutschland – und damit Europa – durch den nun anstehenden zweiten Lockdown eine wirtschaftliche Talfahrt. Kein Politiker versetzt gerne sein Land in Tiefschlaf und bereitet ganzen Branchen Existenznöte, vor allem niemand, der gerne im Amt bleiben möchte.

Dass Angela Merkel, so krisengeeicht und machtbewusst sie auch ist, diesen Druck nicht mehr verspürt, kommt Deutschland jetzt zugute. Die Kanzlerin tut, was sie in der Pandemie für nötig erachtet – und schielt dabei nicht wie anderswo auf Popularitätscharts. Auch wenn die nun verkündeten Maßnahmen vielerorts für Beklemmung und Frustration sorgen mögen: Besonnener als die Physikerin im Kanzleramt kann man sie nicht darlegen, eindringlicher kann man ein Volk nicht zur Ordnung rufen. Eine wie Merkel, Amtsmüdigkeit hin oder her, wird jetzt gebraucht – vielleicht mehr denn je. (Florian Niederndorfer, 29.10.2020)