Feministische Bewegungen begleitet eine lange Tradition der Psychiatriekritik, Kritik an einem Apparat, der eine gewaltvolle Geschichte hat.

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"Wir sind Überlebenskünstler*innen – wir wissen, dass man auch ohne Hoffnung weiterleben kann." Wenn die Kulturwissenschafterin Beatrice Frasl auf Instagram über ihre Depressionen berichtet, findet sie stets klare Worte. Über 13.000 Menschen folgen ihrem Kanal, Frasl nimmt sie mit in die Reha-Klinik, sie erzählt vom kräfteraubenden Prozess, ein gut verträgliches Antidepressivum zu finden, und fordert Reformen im Gesundheitssystem. "Psychische Erkrankungen werden gerne als individuelles Problem gesehen. Ich erkläre, warum sie ein Politikum sind", erzählt die Podcasterin und feministische Aktivistin im STANDARD-Interview.

Obwohl jede sechste Person in Österreich von psychischen Erkrankungen betroffen ist, sind Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen nach wie vor stark tabuisiert. Gesellschaftliche Vorurteile sitzen tief, ebenso die Angst, als nicht "normal" zu gelten.

In der Corona-Pandemie gewinnt das Thema nun zunehmend an Brisanz. Denn die psychische Belastung in der Krise ist hoch, belegen zahlreiche internationale Studien. Frauen leiden besonders stark unter den Restriktionen und berichten von Überforderungssymptomen, zeigt eine Untersuchung der privaten Sigmund-Freud-Universität.

Lebensrealitäten, die Silke Pfeifer-Mayer, Psychotherapeutin am Frauengesundheitszentrum in Graz, vertraut sind. "Ich höre in der Therapie nicht unbedingt von neuen Problemlagen der Frauen, aber die bestehenden spitzen sich zu", erzählt Pfeifer-Mayer im STANDARD-Gespräch. Frauen in prekären Arbeits- oder Wohnverhältnissen habe die Krise besonders zugesetzt, nach der Schockstarre des Lockdowns würden nun existenzielle Ängste vermehrt zutage treten.

Gender-Gap

Bei den diagnostizierten psychischen Erkrankungen zeigt sich ein deutlicher Gender-Gap. So sind Frauen etwa fast doppelt so häufig von Depressionen betroffen wie Männer, Männer wiederum begehen weitaus öfter Suizid, zeigt der Gender-Gesundheitsbericht des Sozialministeriums. Aber nicht nur das Geschlecht, auch andere Faktoren sind entscheidet. Die Angst, am falschen Ort händchenhaltend beobachtet zu werden, die Angst beim Öffnen des Kuverts mit der Stromrechnung oder beim Blick auf den Kontoauszug – all das kann auf Dauer krankmachen. Besonders drastisch wirkt sich Armut aus, von der Frauen wiederum häufiger betroffen sind.

"Das Patriarchat macht krank", formuliert es Beatrice Frasl. Nicht nur die prekäre Lebenssituation habe massive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Frauen, auch Traumatisierungen aufgrund sexueller Gewalt würden für Erkrankungen prädisponieren. "Patriarchat, weiße Vorherrschaft, Kapitalismus und mentale Gesundheit und Krankheit sind eng verwobene Themen und können überhaupt nur in Verbindung umfassend verstanden werden", sagt die Geschlechterforscherin.

Selbstverantwortlich gesund

Das bringt auch Psychotherapie, die sich als feministisch versteht, in die Bredouille. "Mir ist ganz wichtig, dass psychische Probleme nicht nur individuell betrachtet und die Frauen wieder funktionsfähig gemacht werden sollen. Innerhalb einer Therapie muss es immer Raum dafür geben, Machtverhältnisse in Frage zu stellen", sagt Silke Pfeifer-Mayer vom Frauengesundheitszentrum Graz. Viele Frauen würden ohnehin den Druck verspüren, ihr Leben und auch ihren Körper zu optimieren, erzählt die Therapeutin. "Die Doppel- und Dreifachbelastung muss möglichst effizient geschultert werden, dabei sollte man dann noch gut ausschauen."

Sich um das eigene psychische Wohlbefinden möglichst gut zu kümmern, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem gigantischen Markt entwickelt. Meditations-Apps und Yogakurse beugen dem beruflichen Burn-out vor, im Wellness-Marketing erfreut sich das Schlagwort der Self-Care enormer Beliebtheit. "14 Self-Care-Produkte, die dir jetzt guttun", preist das Magazin "Fit for Fun" an, ans Herz gelegt wird den Leser*innen unter anderem eine Akkupressurmatte und ein Lavendel-Kissenspray für entspannten Schlaf in der Corona-Kise. Angesicht der kapitalistischen Vereinnahmung von Selbstfürsorge erinnert nur noch wenig erinnert an Self-Care als radikales politisches Konzept, wie es die Feministin Audre Lorde propagierte. In einer Welt, die etwa einer Schwarzen lesbischen Frau höchst feindlich gegenüberstehe, seien Selbstliebe und die Sorge um das Selbst ein Akt des Widerstands, so Lorde.

"Self-Care ist tatsächlich ein zweischneidiges Schwert", sagt Silke Pfeifer-Mayer. "Natürlich ist es super, jeden Tag darauf zu schauen, was ich brauche, es darf nur nicht wieder in die Selbstoptimierung kippen und ein Vorwurf daraus werden: Wenn es dir schlecht geht, dann hast du eben zu wenig Self-Care gemacht."

Hysterische Frauen

Aus feministischer Perspektive kann Self-Care auch als Absage an Psychotherapie und eine patriarchal geprägte Medizin gelesen werden. Linke und feministische Bewegungen begleitet eine lange Tradition der Psychiatriekritik, Kritik an einem Apparat, der – nicht nur in Österreich – eine gewaltvolle Geschichte hat. Krankheitsbilder wie die Hysterie pathologisierten über Jahrhunderte hinweg das Verhalten von Frauen, wenn dieses von rigiden Geschlechternormen wie weiblicher Bescheidenheit und Fürsorglichkeit abwich. "Der Weigerung von Frauen, sich als bloße Gebärmütter zu verstehen und eine nichterwünschte Schwangerschaft auszutragen, drohte man mit dem Befund Anomalie, den 'hysterischen Weibern' mit einer Einweisung in die Psychiatrie, die vor deren Reformierung einem Gefängnis gleichkam", ist im Band "Liebe, Macht und Abenteuer" zu lesen, der die Geschichte der Neuen Frauenbewegung in Wien aufrollt. Auch, wenn die Hysterie längst aus der medizinischen Fachsprache verschwunden ist, ist sie nach wie vor fester Bestandteil eines sexistischen Jargons. So dient das Bild der emotional instabilen, "hysterischen" Frau dazu, weibliche Erfahrungen und Wahrnehmungen abzuwerten oder für unzuverlässig zu erklären.

Therapie für alle

Die feministische Psychiatriekritik ist auch Beatrice Frasl vertraut. "Ich bin da selbst sehr ambivalent, weil ich als Kulturwissenschafterin und Geschlechterforscherin natürlich um die Geschichte der Psychiatrie, aber auch der Psychotherapie weiß." Diagnosen seien immer kultur- und geschichtsabhängig und nie als objektive Wahrheiten zu betrachten, betont Frasl. Und dennoch: Die Psychiatrie hat ihr auch das Leben gerettet.

Statt für eine Abschaffung kämpft Frasl also für eine Reform, für eine Politisierung der Psychiatrie und Psychotherapie. "Das bedeutet auch, dass sich Behandler*innen politisch für ein Ende von Ungleichheits-, Diskriminierungs- und Unterdrückungsverhältnisse einsetzen, die Menschen krank machen." Ebenso wichtig sei ein barrierefreier Zugang zu Hilfsangeboten. Psychotherapie auf Krankenschein ist in Österreich aufgrund der kontingentierten Plätze nach wie vor ein rares Privileg, Interessenvertretungen fordern seit langem einen massiven Ausbau. Im kommenden Jahr sollen zumindest 20.000 Plätze durch die Österreichische Gesundheitskasse aufgestockt werden.

Lücken in der Versorgung sieht Silke Pfeifer-Mayer aber auch bei den Schnittstellen von stationärer und ambulanter Behandlung. Menschen, die aus dem stationären Kontext entlassen werden, würden allzu oft alleingelassen und nicht weiter professionell betreut werden.

"Danke, dass du anderen Betroffenen zeigst: Wir sind nicht allein", schreibt eine Userin unter einen Instagram-Beitrag von Beatrice Frasl. Dutzende solcher Postings finden sich auf dem Kanal, sie zeigen: Der Weg zu einer Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ist noch ein weiter. (Brigitte Theißl, 1.11.2020)