Grünberg: "Auf dieser Reise habe ich – trotz allem – Amerika mehr schätzen gelernt."

Foto: Roos van Ees

Die Vororte amerikanischer Städte sehen fast alle gleich aus, und in diesen Vororten stehen Gebäude, die auch alle fast gleich aussehen. Und in diesen Gebäuden arbeiten alle möglichen Therapeuten, welche die mannigfaltigsten Therapien anbieten.

In einem solchen Vorort von Portland, Oregon, befindet sich in einem unauffälligen und ebenso unansehnlichen Gebäude das Unternehmen Cuddle Up (kuscheln). Wie der Name schon sagt, besteht die Therapie hier aus Kuscheln.

Zusammen mit meiner Freundin Roos, oder vielleicht sollte ich besser sagen meiner Ex-Freundin, reise ich durch den Westen der USA. Wahrscheinlich ist es unsere letzte Reise. Von Corona war damals noch keine Rede.

Kurz nachdem ich Roos verlassen hatte, stellte sich heraus, dass sie schwanger war. In Los Angeles erlitt sie eine Fehlgeburt. Ich schreibe diese Fakten trocken nieder, oft sind die Fakten schon emotional genug. Der Psychoanalytiker Adam Phillips schreibt in seinem Buch On Balance, dass Trauer und Sexualität uns daran erinnern, wie sehr wir uns manchmal selbst nicht mehr ertragen können. Und das ist bei uns, auf dieser Reise, oft der Fall.

Die zertifizierte Kuscheltherapeutin heißt Joey, sie trägt eine graue Weste und eine kleine Mütze, worunter noch ein paar Strähnen rosafarbenes Haar hervorgucken. Vor noch nicht allzu langer Zeit arbeitete sie als Tänzerin, ich schätze sie auf Mitte dreißig.

"Manchmal kommen Männer hierher, die meinen, hier gäbe es Sex", sagt sie in einem kleinen und überfüllten Büro. "Aber da sind sie hier an der falschen Adresse. Außerdem glaube ich, dass viele Männer, die Sex suchen, sich eigentlich nach Intimität sehnen."

Position "Mama Bear"

Wir erzählen Joey unsere Geschichte, worauf sie von uns wissen möchte, ob es für uns möglich sei, unbelastet von sexuellen Gefühlen miteinander zu kuscheln. Das halten wir für möglich. Die Kuschelzimmer, in denen das Kuscheln stattfinden soll, sehen aus wie Kinderzimmer, die einem bestimmten Thema gewidmet sind.

Roos’ Wahl fällt auf das Sternenzimmer. Joey zeigt uns Fotos von verschiedenen Positionen. Die erste Position, die wir einnehmen, heißt "Mama Bear." Es fühlt sich vertraut und schön an, aber ich weiß, dass kein Weg mehr zurückführt.

Die Vergangenheit ist unglaublich lebendig, aber auch unzugänglich. Eine Therapie, in der man lernt, ohne sexuelle Gefühle miteinander zu kuscheln, ist schön – aber auch eine Niederlage, wenn man das erst erlernen muss.

In einem anderen Vorort von Portland, einem etwas luxuriöseren, in dem man an allen Ecken und Enden Schilder mit Slogans wie "Black Lives Matter" und "In Our America All People Are Equal" sieht, sitzt Madison in einem Hinterhof, sie trägt ein violettes Seidenkleid. Sie wird uns darüber aufklären, was Öko-Sex ist. Sie trägt keine Unterhose und strahlt Ruhe aus.

Schon das ist Öko-Sex

Wir setzen uns neben Madison ins Gras. "So wie wir hier sitzen", sagt Madison, "nur schon das ist Öko-Sex. Man fühlt das Gras, die Sonne, man riecht so viel, die Natur kann uns so begeistern. Viele Leute können sich unter Öko-Sex einfach nichts vorstellen, sie haben so ein beschränktes Bild von Sex, sie glauben, ich würde mich mit einer Zimmerpflanze penetrieren." Wir nicken zustimmend, und ich frage sie: "Kannst du uns das vielleicht etwas genauer erklären?"

"Man kann zum Beispiel auf einem Baum oder mit einem Baum ein sexuelles Erlebnis haben. Ich liebe Holz, ich bin eine Feministin, aber auch eine Masochistin. Ich mag es, wenn mich jemand mit einem Stück Holz schlägt." Madison beschreibt sich selbst als eine sexuelle Revolutionärin. Im Jahr 2000 hat sie in San Francisco eine Galerie eröffnet, und um die Miete bezahlen zu können, spielte sie in Pornofilmen.

Momentan hat sie zwei Kinder, ein achtjähriges Mädchen und ein zweijähriges Kind, dessen Geschlecht Madison zum jetzigen Zeitpunkt nicht eindeutig definieren möchte. Sie ist dermaßen progressiv, dass sie die nachgeburtliche Geschlechtswahl dem Kind überlassen möchte.

"Zurzeit glaubt das Kind, es sei ein Haifisch", sagt sie. Dann masturbiert sie mit einem Kristalldildo, zuerst stehend, später sitzend im Gras. Roos macht Fotos, ich mache Notizen. "Sex ist Magie", sagt Madison beim Abschied. Wahrscheinlich hat sie recht, wir alle sind zu magischem Denken verurteilt.

Gemeinsam im Auslandseinsatz

Unsere Reise neigt sich dem Ende zu. Es ist in Lacey, einer verschlafenen Stadt, südlich von Seattle, wo wir uns mit Dan und Jovita treffen, afroamerikanischen Veteranen mit vier Kindern. Sie haben beinahe überall gewohnt und gearbeitet.

Ihr Haus ist fast leer, sie ziehen mal wieder um, diesmal nach Georgia. "Wie habt ihr euch kennengelernt?", möchte ich wissen. "Ich arbeitete auf einer Militärbasis in South Carolina, in der Kantine. Er kam immer wieder zu mir herein. Er sah nicht aus wie ein typischer Soldat. Und ich fragte mich, wer dieser Typ ist. Und jetzt sind wir schon seit 23 Jahren zusammen, worunter sechsmal gemeinsam im Auslandseinsatz, und zwischendurch war ich viermal schwanger." Sie lacht.

Er trägt eine kurze blaue Hose und rote Turnschuhe. Beide tragen das gleiche T-Shirt. "Und wie habt ihr einander und die Kriege überlebt?", frage ich. "Es war im Jahr 2010", erzählt Jovita, "wir waren in El Paso stationiert, "und mir wurde auf einmal klar, dass ich ein völlig unechtes Leben führte. Früher hatten beide von uns Affären, aber als er wieder damit anfing, sagte ich zu ihm, während wir zusammen am Flughafen standen, um unsere Verwandten abzuholen: "Pack deine Sachen und verschwinde. Was nicht ins Auto reinpasst, gehört mir." Er zog in ein benachbartes Hotel. Und der Pastor kam uns zu Hilfe, er sagte: "Du kannst ihn nicht im Hotel vergammeln lassen."

Einen Rosenstrauch pflanzen

"Wir richteten in unserem Haus ein Zimmer als Gebetsraum ein, in dem wir meditierten. Ich erinnere mich noch an den Moment, in dem für mich die Welt zusammenbrach. Es war im Haus des Pastors, wo ich mich auf den kalten Fliesenboden habe fallen lassen und mir klar wurde, dass mir genau zwei Möglichkeiten blieben. Entweder bleibe ich so, wie ich bin, und verkümmere als menschlicher Roboter, oder ich reiße das Steuer radikal herum und mache alles anders."

So gesehen hat sich für Jovita und Dan einiges verändert, denn sie machen einen zufriedenen, irgendwie sogar glücklichen Eindruck. Roos flüstert: "Siehst du, Liebe kann alles überwinden."

Bevor wir nach New York zurückfliegen, möchte Roos als Erinnerung an das Baby, das wir durch eine Fehlgeburt verloren haben, noch einen Rosenstrauch pflanzen. In unserem Hotel arbeitet eine Empfangsdame mit Namen Valerie, der wir unsere Geschichte erzählt haben und die uns anbietet, den Rosenstrauch bei ihr im Garten zu pflanzen. Sie hat vor zehn Jahren auch ein Baby verloren, an das sie oft denkt.

Amerika schätzen gelernt

In Valerie’s Garten grabe ich mit einer Schaufel ein Loch. "Möchtest du unserem Kind ein paar Worte schreiben?", fragt Roos. "Dann können wir den Brief in der Erde neben dem Strauch begraben." Ich schreibe etwas, und auch Roos schreibt. Sie liest es vor. Es ist ein schöner Tag, wolkenlos, warm. Sie schreibt unter anderem: "Es tut mir so leid, dass wir dir nie sagen konnten, wie sehr wir dich wollten, wie willkommen du warst.

Wenn ich nur vorher gewusst hätte, wie lieb du mir bist, dann wäre mein Körper vielleicht ein sichereres Zuhause für dich gewesen. Ich vermisse es, dich in mir zu fühlen. Ich stelle mir vor, dass in ein paar Jahren dieser Strauch in voller Blüte steht und ein Fuchs oder ein Hirsch an dir schnüffelt."

Wir bleiben noch ein paar Minuten stehen und bewundern den Strauch. Dann fahren wir weiter in Richtung Flughafen Seattle. Auf dieser Reise habe ich – trotz allem – Amerika mehr schätzen gelernt.

Die Atmosphäre von Verlassenheit, die dieses Land ausstrahlt, widerspiegelt sich in unserer eigenen Verlassenheit. Und ich habe wieder gelernt, Roos zu lieben, auf andere Weise, obwohl wir nicht beieinandergeblieben sind.

Am Flughafen sage ich zu Roos: "Bevor ich auf Reisen ging, sagte meine Mutter immer zu mir: ‚Geh in Frieden.‘ Das möchte ich jetzt auch zu dir sagen: ,Geh in Frieden, liebe Roos.‘"(Arnon Grünberg, ALBUM 31.10.2020)