Faika El-Nagashi glaubt, dass auch "toxische Integrationsdebatten" ein Grund für Radikalisierung sind.

Foto: APA/ROBERT JAEGER

Nach der Ermordung des französischen Geschichtelehrers Samuel Paty durch einen mutmaßlichen Islamisten vor zwei Wochen wurden am Donnerstag im südfranzösischen Nizza erneut drei Menschen bei einem Attentat getötet. Wie kann man verhindern, dass sich junge Menschen in einer aufgeklärten Gesellschaft radikalisieren – auch in Österreich? Die grüne Integrationssprecherin Faika El-Nagashi hält Extremismus für ein gesamtgesellschaftliches Problem und wehrt sich im Gespräch mit dem STANDARD gegen den Vorwurf, dass nur rechte Parteien Islamismus bekämpfen würden.

DER STANDARD: Sie haben die Attentate in Frankreich gemeinsam mit anderen Grünen wie der Bildungssprecherin Sibylle Hamann und Klubobfrau Sigrid Maurer scharf verurteilt. Was war Ihre erste Reaktion, als Sie davon erfahren haben?

El-Nagashi: Es war anfangs schwer, Worte für diese abscheulichen Taten zu finden und das, was durch sie ausgelöst wird. Das ist auch der Kern von Terror – Schrecken zu verbreiten. Denn dadurch entstehen Verunsicherung und eine Spirale an gewaltvollen Diskursen. Ja, es gibt geopolitische Auseinandersetzungen, Kriege, Kolonialismus, Imperialismus und rassistische Politiken. Aber deswegen darf es keine Relativierungen geben: Hier begehen mehrheitlich junge Männer grausame Verbrechen und berufen sich dabei auf den Islam, befeuert durch jihadistische Bewegungen, die diesen Terror gezielt verbreiten. Die große Herausforderung ist, gemeinsam diese Spirale zu durchbrechen.

DER STANDARD: Kritiker werfen linken Parteien oft falsche Toleranz gegenüber Islamismus vor, weil sie den politischen Islam nicht so direkt ansprechen wie andere Parteien. Was entgegnen Sie dem?

El-Nagashi: Es bringt uns nicht weiter, von rechts oder links mit Vorwürfen oder Zuschreibungen zu arbeiten. Wir führen seit Jahren dieselbe Diskussion, dabei unterscheiden sich nur die Zugänge. Ich möchte meinen Blick darauf richten, worum es eigentlich geht. Wir brauchen eine systemische Extremismusprävention, ohne bestimmte Bevölkerungsgruppen zu stigmatisieren – in dem Fall sind das Musliminnen und Muslime. Nur weil man eine bestimmte Bevölkerungsgruppe nicht pauschal verurteilt, heißt man Fundamentalismus nicht gut. Ganz im Gegenteil, es geht darum, Verbündete zu suchen, um den Fundamentalismus gemeinsam zu bekämpfen.

"Nur weil man eine Musliminnen und Muslime nicht pauschal verurteilt, heißt man Fundamentalismus nicht gut."

DER STANDARD: Welchen Zugang haben die Grünen?

El-Nagashi: Wir müssen die soziale Polarisierung, eine Desintegration der Gesellschaft verhindern. Damit einher geht nämlich die gewalttätige Radikalisierung, und zwar jeder Art von Extremismus. Es gibt nicht nur eine Ursache für Fundamentalismus, eine ganze Reihe verschiedener Faktoren können zusammentreffen. Angefangen vom familiären Hintergrund hin zu Gewalterfahrung, fehlenden Perspektiven, dem Gefühl gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein, auch selbst Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben. Und ich sage es ganz offen: Ein Kernpunkt von Ausgrenzungserfahrungen ist die Instrumentalisierung in der Integrations- und Migrationspolitik. Toxische Integrationsdebatten unterstellen Menschen in Österreich permanent Integrationsunwilligkeit. Das haben wir auch wieder im Wien-Wahlkampf gesehen.

DER STANDARD: Wo kann man dann konkret ansetzen, um Radikalisierung zu verhindern?

El-Nagashi: Der Attentäter von Paris war 18 Jahre alt. Das ist umso erschreckender, aber es zeigt auch, wo angesetzt werden kann. Denn tatsächlich handelt es sich dabei oft um Jugendliche, die nach Orientierung, Anerkennung und Zugehörigkeit suchen und besonders empfänglich für extremistische Erzählungen sind. Deswegen sehe ich die Hauptaufgabe darin, bei jungen Menschen und vor allem jungen Männern eine Resilienz gegenüber Extremismus und Fanatismus zu stärken.

DER STANDARD: Wie und wo stärkt man diese Resilienz?

El-Nagashi: Das fängt schon im Kindergarten an und muss sich durch den gesamten Bildungs- und Ausbildungsbereich ziehen. Aber es ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und dazu müssen die Ankerpunkte unserer Gesellschaft vermittelt werden. Etwa Demokratieverständnis, Grundrechte, Geschlechtergerechtigkeit – auch flexiblere Geschlechterbilder, gerade für junge Männer. Medien und Politik haben hier eine Vorbildwirkung, um diese Ankerpunkte zu vermitteln. Insbesondere braucht es auch eine Fähigkeit zum kritischen Denken und Medienkompetenz. Vieles an extremistischer Rekrutierung passiert heute im virtuellen Raum. Dafür ist es wichtig, Fake-News und Hassrede zu erkennen und zu wissen, wie man sich davon abgrenzt.

DER STANDARD: Müssen auch Religionsvertreter stärker zur Verantwortung gezogen werden?

El-Nagashi: Keine Religionsgemeinschaft sollte es dulden, wenn in ihrem Namen Gewalt betrieben und verherrlicht wird. Natürlich gibt es Vertreter innerhalb der muslimischen Gemeinden, die über das nötige Standing verfügen und damit auch die Verantwortung haben, aktiv zu werden. Sie müssen gegen die Instrumentalisierung der Religion auftreten und dies auch klar kommunizieren. Bei ihnen liegt schließlich die Autorität, Grenzen zu ziehen und Sanktionen in den Raum zu stellen. Der Kampf gegen den jihadistischen Fundamentalismus und islamistisch motivierte Gewalt muss zu einer gemeinsamen Priorität werden. Aber es ist fraglich, inwieweit diese jungen Männer damit erreicht werden. Denn die Radikalisierung spielt sich auch in einer gewissen Jugendkulturszene ab.

"Keine Religionsgemeinschaft sollte es dulden, wenn in ihrem Namen Gewalt betrieben und verherrlicht wird."

DER STANDARD: Nun leidet Frankreich schon seit Jahren unter terroristischen Anschlägen. Glauben Sie, wird man sich auch in Österreich in Zukunft davor fürchten müssen, dass Grundrechte wie die Meinungsfreiheit in Gefahr sind oder dass es gar zu Attentaten kommt?

El-Nagashi: Ich denke das Recht auf Meinungsfreiheit ist in Österreich sehr stark im Grundverständnis verankert – quer durch die Gesellschaft. Über Anschläge möchte ich nicht spekulieren, aber es gibt viele gute Maßnahmen im Sicherheitsbereich. Wir haben eine österreichische Strategie zu Extremismusprävention und Deradikalisierung, bei der die Polizei mit der Jugend- und Sozialarbeit zusammenarbeitet. Das ist vorbildhaft, muss aber mit mehr Ressourcen ausgestattet werden. Darüber hinaus wären Anlaufstellen für betroffene Jugendliche und deren Angehörige nötig, die beraten, wenn Jugendlichen einmal in bestimmte Gruppen hineingeraten sind. Und natürlich benötigen wir mehr finanzielle Mittel für die Gegenerzählung in sozialen Medien, die Onlinesozialarbeit. Am Ende des Tages braucht es aber insgesamt mehr gesellschaftliche Einbindung. Da hat die Politik eine Vorbildfunktion und kann etwa mit einer anderen Integrationspolitik beitragen, die stärker auf sozialen Zusammenhalt fokussiert.

DER STANDARD: Die Grünen sind Teil der Regierung, Ihre Forderungen ließen sich also umsetzen. Geht das mit der ÖVP?

El-Nagashi: Wir kommen hier aus zwei gänzlich verschiedenen Traditionen. Die Grünen leben seit ihrer Gründung Demokratie, Emanzipation, Partizipation, Inklusion und Diversität im Parteiverständnis. All das brauchen wir für den Zusammenhalt in der globalen Einwanderungsgesellschaft. Einiges davon konnten wir auch ins Regierungsprogramm einbringen wie mehr Ressourcen für Schulen, mehr Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration und Strategien im Kampf gegen Extremismus. Aber es gibt auch vieles, das keine Mehrheit gefunden hat. Ungeachtet dessen ist es wichtig, welches Vorbild wir durch die Politik vermitteln. In diesem Sinn versuche ich positiv zu wirken und zu verändern, auch in der Zusammenarbeit in dieser Koalition. (INTERVIEW: Davina Brunnbauer, 31.10.2020)