Timothy Snyder: "Trump ist zumindest eine autoritäre Person."

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Letztes Silvester wäre Timothy Snyder fast an einer Blutvergiftung gestorben, weil Ärzte in mehreren Spitälern einen Blinddarmdurchbruch übersehen hatten. Darauf schrieb der Historiker ein Buch über das Versagen des US-Gesundheitssystems, das beispielhaft dafür sei, wie massiv die Ungleichheiten im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" inzwischen sind.

Trump habe diesen Zustand verstärkt, die Spaltung des Landes habe sich während seiner Präsidentschaft verschärft. Trump gehe es nur um Machterhalt, dafür würde er sogar Gewalt in Kauf nehmen, sagt Snyder. Die USA steuern auf eine ernsthafte Wahlkrise zu.

STANDARD: Sie berichten in Ihrem neuen Buch "Die amerikanische Krankheit" auch über Ihre persönliche Erlebnisse mit dem amerikanischen Gesundheitssystem. Wie waren die?

Timothy Snyder: Ich hatte eine schwere Infektion, die lange nicht erkannt und behandelt wurde. Der Grund dafür war nicht, dass die Ärzte so schlecht waren, sondern dass sie sich schlichtweg nicht um mich gekümmert haben, weil sie es einfach viel zu eilig hatten. Das Grundproblem des amerikanischen Gesundheitssystems ist, dass es gewinnorientiert ist. Menschen, die mehr bezahlen, bekommen eine bessere Versorgung. Das ist hier normal. Entscheidungen werden also nicht von einem medizinischen Standpunkt aus getroffen, sondern von einem finanziellen. Wir haben Menschen an der Spitze dieses Systems, die keine Ahnung von Medizin haben, aber unglaublich viel Geld damit machen. Die Statistik spricht für sich: Reiche Menschen in den USA leben länger.

STANDARD: Auch an dieser Frage ist die massive Spaltung in der US-Gesellschaft zu sehen. Die Republikaner wollen Obamacare, ein Gesetz, das Zugang zur Krankenversicherung für alle sicherstellen soll, um jeden Preis abschaffen. Die Demokraten wollen das Programm um jeden Preis ausweiten. Wie tief ist der Riss durch die US-Gesellschaft, und hat er sich während der Trump-Jahre vertieft?

Snyder: Auf jeden Fall. Dieser Riss tritt ganz offen zutage. Gut ist, dass sich dadurch viel mehr Menschen als vorher mit Politik beschäftigen und sich Gedanken machen. Die jüngere Generation ist aufmerksamer geworden. Trumps Anhänger sind jedoch mittlerweile viel isolierter, misstrauischer und offener für Verschwörungstheorien als vor vier Jahren.

STANDARD: In Ihrem Bestseller "Über Tyrannei" warnen Sie schon 2017 davor, dass die demokratischen Institutionen für einen Präsidenten wie Donald Trump zu schwach sein könnten. Hatten Sie recht?

Snyder: Alles, was ich damals vermutete, ist mehr oder weniger wahr geworden. Für viele US-Amerikaner waren die letzten dreieinhalb Jahre voller Überraschungen. Wir hatten in der letzten Zeit Glück mit unseren Präsidenten, dieses Mal hatten wir einfach Pech. Was mich überrascht hat, ist aber, dass die republikanische Partei so derart schnell vor Donald Trump in die Knie gegangen ist. Ich hätte mir erwartet, dass wenigstens ein paar ihren Prinzipien treu bleiben würden. Bemerkenswert ist auch, wie schnell sich die Amerikaner an diesen Ausnahmezustand gewöhnt haben. Wir haben vergessen, wie es ist, nicht täglich einen Twitter-Aufreger zu haben oder wöchentlich einen Korruptionsskandal. Wir haben vergessen, wie es ist, einen Präsidenten zu haben, der zumindest so tut, als ob Kriege ihn kümmern würden. Das bedrückt mich. Und auch, dass es so viele Amerikaner gibt, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen und das auf Fox News auch immer wieder rechtfertigen.

STANDARD: Trump hat mehrfach betont, dass ein Biden-Sieg nur auf Wahlbetrug beruhen kann und die Briefwahl dazu beiträgt. Bereitet Trump absichtlich einen Aufstand vor, oder was sind seine Absichten?

Snyder: Am 3. November findet eine Wahl statt, die in ein größeres politisches Szenario eingebettet ist: Trump will an der Macht bleiben. Er würde sich freuen, das durch ein Wahlsieg zu schaffen, aber es ist ihm seit mindestens sechs Monaten klar, dass das unwahrscheinlich ist. Alles, was er seitdem tut, zielt darauf ab, es auch ohne den Wahlerfolg hinzukriegen. Im Juni riskierte er eine Militarisierung der Politik, im Juli redete er davon, die Wahl zu verschieben, immer wieder spricht er von Wahlbetrug, ermutigt radikale Anhänger. Er versucht, eine Situation zu schaffen, in der an einer Niederlage so starke Zweifel bestehen, dass der Supreme Court ihn letztlich zum Präsidenten macht. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Erstens mag er Diktaturen, und Demokratie ist ihm egal. Aber viel wichtiger: Wenn er nicht mehr Präsident ist, drohen ihm vielleicht Milliarden an Steuernachzahlungen und diverse Anklagen. Er wird deshalb wie ein Löwe kämpfen, um im Weißen Haus zu bleiben. Die Geschichte endet bestimmt nicht am 3. November. Das Drama wird wohl länger dauern.

STANDARD: Würde er auch Unruhen und Gewalt in Kauf nehmen?

Snyder: Ich glaube, er hofft sogar darauf. Er braucht Unruhen und Gewalt, um einen Notstand ausrufen zu können. Er hat diesen passiv-aggressiven Stil. Er sagt nie direkt: Geht hin und macht das und das. Er gibt Hinweise, ist verschwörerisch, macht Andeutungen. Blutvergießen und Chaos rund um den Wahltag würden Trump sehr freuen, denn nur dann kann er den Notstand ausrufen. Menschenleben kümmern ihn dabei wenig. Sein einziges Ziel: den Supreme Court davon zu überzeugen, dass nur das Einstellen der Auszählungen weiteres Blutvergießen verhindern kann.

STANDARD: Könnte das tatsächlich funktionieren?

Snyder: Ich glaube nicht, dass das funktioniert, aber ich glaube, dass Trump zumindest darauf spekuliert. Ich denke, Biden gewinnt die Wahlen deutlich, trotzdem wird Trump alles versuchen und dadurch eine massive Wahlkrise auslösen. Meine Hoffnung ist, dass wir aus dieser Krise gestärkt hervorkommen und sie den Weg für positive Veränderungen freimacht. Es wird eine Herausforderung – aber eine, die wir bestehen.

STANDARD: Sie meinten, Trump mag Diktaturen. Ist er mittlerweile selbst ein autoritärer Präsident?

Snyder: Er ist zumindest eine autoritäre Person, und es könnte zu einer autoritären Situation kommen. Wir haben kein autoritäres System, aber wie viele Diktatoren hat Trump ein großes persönliches Interesse daran, im Amt bleiben. Wenn Hillary Clinton so eine Wahl verliert, setzt sie sich am nächsten Morgen hin, trinkt eine Tasse Kaffee und schreibt ein Buch. Wenn Trump verliert, muss er sich überlegen: Riskiere ich in der Armut oder gar im Gefängnis zu landen? Was soll ich tun? Setze ich mich nach Russland ab?

STANDARD: Gehen wir einmal davon aus, dass Trump im Jänner aus dem Weißen Haus auszieht. Ist dann alles wieder beim Alten?

Snyder: Wenn die Demokraten die Präsidentschaft, das Repräsentantenhaus und den Senat gewinnen, wird es interessant. Eines der größten Probleme der USA der letzten Dekade war es, dass der Gesetzgebungsprozess über lange Strecken blockiert war. Sollte sich diese Blockade endlich lösen, wird sich das auch im Land bemerkbar machen. Die Atmosphäre in der Politik könnte sich wieder spürbar verbessern. Derzeit herrscht nur Angst und Stagnation. Aber die Menschen müssen endlich wieder sehen, dass die Regierung etwas Positives voranbringt. Die Corona-Krise ist dahingehend sogar eine Chance. Aber natürlich wird dadurch nicht die Zeit vollends zurückgedreht. (Manuela Honsig-Erlenburg, 31.10.2020)