Festung Europa oder kulturelle Vielfalt: Wie könnte Europa 2048 aussehen?

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Stellen Sie sich vor, Sie könnten übers Wochenende ins Europa des Jahres 2048 reisen. Sie entscheiden sich dazu, die großen Hauptstädte wie London, Paris und auch Wien zu besuchen. Was Sie dort sehen, schockiert Sie: Die Städte sind größtenteils leer, einzelne Wohnhäuser nur mehr von verarmten Arbeitern bewohnt. Jene, die es sich leisten konnten, sind aufs Land gezogen, haben sich dort Villen gebaut, die sie vor Unwettern, Hitzeperioden und potenziell ansteckenden Mitmenschen schützen sollen. Ihre "Nachhaltigkeitseinstufung" bestimmt, welche Schule Sie besuchen und welche Jobs Sie ausüben dürfen. Jene, die sich am besten vor den Folgen des Klimawandels schützen können, stehen am besten da.

Ist dieses Zukunftsszenario realistisch? Nicht unbedingt, sagen die Forscher, die es aufgestellt haben: 16 Wissenschafter aus 13 Ländern, die innerhalb des Projekts "Imajine" ergründen wollen, wie sich die Ungleichheit in Europa entwickelt. Vier Szenarien haben die Forscher kürzlich erstellt, alle mit völlig unterschiedlichen Entwicklungen. Die Szenarien seien keine genauen Vorhersagen, betonen die Experten, und erheben deshalb auch keinen Anspruch darauf, realistisch zu sein. Stattdessen sollen sie dabei helfen, gegenwärtige Herausforderungen besser zu verstehen und überhaupt über neue Möglichkeiten der Entwicklung Europas nachzudenken. Welche Entwicklungen wünschenswert erscheinen, könnte laut Forschern nicht zuletzt Auskunft über die Werte einer Gesellschaft und jedes Einzelnen geben.

Szenario 1: 3D-Drucker und "Festung Europa"

Im ersten Szenario führen fortschrittliche 3D-Drucktechnologien und Produktionstechniken zu hohem Wohlstand in ganz Europa. Automatisierte Betriebe erzeugen und verteilen Güter auf lokaler Ebene, die Wirtschaft hat sich zu einer Kreislaufwirtschaft entwickelt. Durch den gestiegenen Wohlstand ist die EU gewachsen und schließt nunmehr auch die Türkei und die Ukraine ein, was mitunter zu neuen Spannungen an den Außengrenzen führt.

Während die EU durch hohe Migration über viele Jahre kulturell immer vielseitiger wird (2035 wird der erste Muslim zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt), wird die EU danach isolierter und protektionistischer. "Klimaflüchtlinge" werden regelmäßig an den Grenzen gestoppt, durch die hohe Automatisierung sind die Länder weniger von geringqualifizierten Arbeitern abhängig. Den Bürgern fehlt es an wenig, aber sie können sich kaum politisch beteiligen. Ab 2048 werden die Rufe nach mehr politischer Freiheit immer lauter.

Szenario 2: Leben auf dem Land und mit dem Klimawandel

Das zweite Szenario entspricht in weiten Teilen dem imaginierten Einstieg am Beginn des Artikels: Weitere Pandemien und der Klimawandel haben viele Menschen aus den Städten und von küstennahen Gebieten vertrieben, das Leben auf dem Land wird immer beliebter. Menschen werden anhand ihrer Nachhaltigkeitsbemühungen gemessen und nutzen die Bewertung für Jobs und Karrieremöglichkeiten. Die EU muss hohe "Klima-Reparationszahlungen" an Länder im globalen Süden für die historische Ungleichheit bei CO2-Emissionen zahlen.

2048 gibt es den Kapitalismus nicht mehr, stattdessen liegt der Fokus auf kleinen Gemeinschaften und auf Kunst und Kultur, die immer mehr aus Asien vorgegeben wird. Jährlich finden Olympische Spiele statt, die großen Wert auf Literatur und Philosophie legen.

Szenario 3: Digitale Ungleichheit und Online-Staatsbürgerschaft

Beim dritten Szenario gibt es eine große Ungleichheit zwischen jenen Menschen, die Zugang zu fortschrittlicher Technologie haben, und jenen, die von dieser Entwicklung ausgeschlossen werden. Staatsbürgerschaft ist zu einem rein digitalen Konzept geworden: Menschen können in Australien leben und nie einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt haben und trotzdem "online" europäische Staatsbürger sein. Es ist möglich, seine Rechte, beispielsweise was die Gesundheitsvorsorge betrifft, anderen vorübergehend zu leihen oder sogar Rechte miteinander zu tauschen.

Der Großteil des wirtschaftlichen Geschehens findet online statt, Telekommunikation ist die Norm statt die Ausnahme. Es ist wahrscheinlicher, mit Menschen aus China, Mexiko oder den USA zusammenzuarbeiten, als mit Menschen aus dem eigenen Land. Ungleichheit ist darüber definiert, wer im virtuellen Raum arbeiten und sich treffen darf und wer nicht.

Szenario 4: Fake News und ein geteiltes Europa

Im letzten Szenario ist Europa in mehrere Lager gespalten, Fake-News haben das Vertrauen in Wissenschaft und Politik erodiert. In einigen Ländern wählen Menschen Politiker, die Verschwörungstheorien vertreten. Es fällt schwer, sich auf vertrauenswürdige Quellen zu einigen.

Während sich einige Regionen auf "traditionelle" und religiöse Werte besinnen, werden an anderen Orten Ehen von bis zu fünf Personen gefeiert. In wieder anderen Regionen haben Flüsse, Berge und digitale Systeme wie der Sprachassistent Siri eigene Persönlichkeitsrechte. Die generelle Solidarität zwischen den Gebieten ist stark gesunken. Besucher aus den USA, China oder Indien würden die EU im Jahr 2048 als eher zurückgeblieben einschätzen.

Perspektiven zu Fairness

All diese Szenarien könnten laut Forschern helfen, darüber nachzudenken, wie Perspektiven zu Ungleichheit, Solidarität und Wohlstand formuliert werden und was am Ende als fair und akzeptabel eingeschätzt wird. Genau so eintreten werden die Szenarien wahrscheinlich nicht. (Jakob Pallinger, 2.11.2020)