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Seit Trumps Wahlsieg vor vier Jahren ziehen einige Kommentatoren immer wieder Parallelen zwischen ihm und Jimmy Carter.

Foto: Reuters / Andrew Kelly

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Es ist nicht leicht, Ähnlichkeiten zwischen Donald Trump und Jimmy Carter, jenem tiefreligiösen, moralischen und bescheidenen US-Präsidenten der späten 1970er-Jahre, zu finden.

Aber seit Trumps Wahlsieg vor vier Jahren ziehen einige Kommentatoren immer wieder Parallelen zwischen diesen beiden Präsidenten. Sie beziehen sich dabei auf die These des Politologen Stephen Skowronek, der den Begriff der "disjunctive presidency", der Umbruch-Präsidentschaft, geprägt hat, mit der eine Ära zu Ende geht und eine neue eingeleitet wird.

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Carter stellte sich gegen feste Überzeugungen seiner demokratischen Partei und sprach damit zunächst neue Wählerschichten an. Aber es gelang ihm nicht, ein kohärentes Programm zu formulieren, er versagte als Krisenmanager und wurde nach nur vier Jahren wieder abgewählt. Damit endete 1980 die Dominanz des New-Deal-Liberalismus und begann unter Ronald Reagan jene rechtskonservative Vorherrschaft, die bis heute die Politik der USA prägt.

Eine ausgelaugte Partei

Damals genossen die Rechten auch eine gewisse intellektuelle Überlegenheit, sie sprühten voller innovativer, wenn auch oft umstrittener Konzepte. Doch auf der Ebene der politischen Inhalte sind die Republikaner heute völlig ausgelaugt; unter Trump, wie einst Carter ein Außenseiter in seiner Partei, verteidigen sie nur noch die Interessen einiger Lobbys und betreiben – brutal und erfolgreich – Machtpolitik.

Überzeugende Zukunftsvisionen kommen nur aus dem Lager der Demokraten, und sowohl globale Entwicklungen wie die Klimakrise und die Pandemie als auch die Demografie sprechen für einen nachhaltigen Ruck nach links. Besser Gebildete stimmen heute mehrheitlich für die Demokraten, und vor allem unter den Jungen ist selbst der Begriff Sozialismus kein Schimpfwort mehr.

Zeit für die Zeitenwende?

War Trump das letzte Aufflackern des Amerika der religiösen, weißen und teils rassistischen Kleinstädte, die so lange den Kurs des Landes bestimmt haben? Ist nun der Augenblick für eine nachhaltige Zeitenwende gekommen? Wenn Joe Biden die Präsidentenwahl so deutlich gewinnt, wie es die meisten Umfragen prognostizieren, und die Demokraten neben dem Repräsentantenhaus auch im Senat die Mehrheit erobern, dann könnte dieses Szenario Realität werden.

Allerdings wurden solche fundamentalen Pendelbewegungen in den vergangenen 30 Jahren schon mehrmals vorausgesagt, so etwa 1992 beim Wahlsieg von Bill Clinton. Zehn Jahre später veröffentlichten die Politikwissenschafter John Judis und Ruy Teixeira ein Buch mit dem Titel The Emerging Democratic Majority, in dem sie einen zunehmenden "progressiven Zentrismus" in den am schnellsten wachsenden Bevölkerungszentren feststellten.

Doch trotz der Wahlerfolge des politischen Superstars Barack Obama 2008 und 2012 war bis vor kurzem ein Großteil der amerikanischen Politik fest in republikanischer Hand – nicht nur in Washington, sondern auch in den meisten Bundesstaaten. Und im Weißen Haus sitzt der reaktionärste Präsident seit Jahrzehnten.

Was ist schiefgelaufen?

Was ist aus Sicht der Demokraten schiefgelaufen? Entscheidend war, dass große Reformversuche unter Clinton und Obama, vor allem im auch emotional so sensiblen Gesundheitssystem, massive Gegenreaktionen hervorgerufen und damit den Republikanern immer wieder zu Mehrheiten im Kongress und den Parlamenten in den Bundesstaaten verholfen haben.

Die Demokraten mögen grundsätzlich mehr Wähler haben, doch die gingen mehrmals in geringerer Zahl zur Wahl – zuletzt etwa 2016, als eine gesunkene Wahlbeteiligung unter Afroamerikanern zu Hillary Clintons Niederlage beigetragen hat.

Die Demokraten mögen grundsätzlich mehr Wähler haben, doch die gingen mehrmals in geringerer Zahl zur Wahl.
Foto: AFP / Jim Watson

Weil die Republikaner zur richtigen Zeit in den richtigen Institutionen das Sagen hatten, konnten sie das Wahlsystem in ihrem Sinne steuern. Gerrymandering, also die manipulative Umformung von Wahlbezirken, benachteiligt demokratische Kandidaten in vielen Bundesstaaten.

Dazu kommt das Übergewicht von ländlichen Regionen, die eher republikanisch wählen, im Senat und in weiterer Folge der Vorteil von Republikanern im Wahlmännerkolleg. Man darf nicht vergessen: Seit 1988 hat ein Republikaner nur ein einziges Mal eine Präsidentschaftswahl mit Stimmenmehrheit gewonnen, nämlich 2004, als George W. Bush nach den Terroranschlägen von 9/11 verängstigte Wähler der Mitte für seinen Kurs mobilisieren konnte.

Richter als Parteisoldaten

Und vor allem unter Trump haben die Republikaner ihre Macht dazu ausgenutzt, um das Bundesjustizsystem mit ultrarechten Richtern zu durchsetzen, zuletzt den Obersten Gerichtshof, der dank der neuen Höchstrichterin Amy Coney Barrett nun mit einer starken konservativen Mehrheit progressive Reformen einer Biden-Präsidentschaft zu blockieren droht – und im Extremfall auch die Wahl zugunsten von Trump entscheiden könnte.

Entgegen ihrem Berufsethos sehen sich diese Juristen mehr als Parteisoldaten, die Hürden für die Stimmabgabe von sozial Schwächeren zulassen oder verhindern, dass alle Wahlkarten gezählt werden.

Die Ideologie des "Originalismus", der die Mehrheit anhängt, ist eine intellektuelle Verrenkung: Der Supreme Court soll demnach stets so entscheiden, wie es die Autoren der Verfassung von 1787 tun würden. Dass diese Männer für ihre Zeit progressive Revolutionäre waren, die heute keine reaktionären Ansichten vertreten würden, wird dabei ignoriert.

Was der Supreme Court verhindern könnte

Das Höchstgericht könnte in nächster Zeit Abtreibungsverbote zulassen, Obamacare außer Kraft setzen und damit das Gesundheitssystem ins Chaos stürzen, die Schusswaffengesetze weiter aufweichen und LGBT-Rechte einschränken. Auch Bidens Klimapläne könnten die sechs konservativen Höchstrichter konsequent hintertreiben.

In all diesen Fragen ist die öffentliche Meinung inzwischen klar nach links gerückt, ebenso bei der Einschätzung der Ungleichheit, die Trumps Steuer- und Wirtschaftspolitik weiter verschärft hat. Die breite Unterstützung für Biden und die Demokraten, die alle Umfragen aufweisen, ist nicht nur die Folge des Versagens gegen das Coronavirus.

Die Bevölkerung der USA ist heute zwar im Durchschnitt immer noch wirtschaftspolitisch konservativer und religiöser als die in Europa, aber die Kluft in der öffentlichen Meinung ist in den vergangenen Jahren geschrumpft, während die in der realen Politik gewachsen ist.

Womit Trump recht hat

Paradoxerweise hat Trump mit einem Vorwurf gegen Biden recht: Er wäre als Präsident wohl weniger gemäßigt, als es seiner Weltanschauung und Persönlichkeit entspricht – vor allem, wenn die Demokraten die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses erringen. Die Themenlage und die Stimmung in der eigenen Partei werden ihm kaum eine andere Chance lassen. Die Zeit ist reif für einen neuen New Deal.

Wahrscheinlich würden die Demokraten versuchen, bis zur Kongresswahl 2022 so viel wie möglich von ihrer Agenda umzusetzen – und dabei auch gleich die demokratische Schieflage korrigieren, indem etwa die Hauptstadt Washington und Puerto Rico zu Bundesstaaten werden, die 60-von-100-Stimmen-Hürde für Entscheidungen im Senat (Filibuster) abgeschafft und der Supreme Court mit liberalen Richtern erweitert wird. Kompromisse mit den Republikanern zu suchen wäre sinnlos, denn diese würden nach einer schweren Wahlschlappe noch weiter nach rechts rücken.

Bürgerkriegsszenario

Aber es gibt auch eine große Minderheit, die dies als feindlichen Angriff auf ihre Heimat betrachten würde. Nicht nur, dass Trump stets behauptet, er könne nur durch Wahlbetrug verlieren –schon Clinton und Obama wurden von rechten Kräften als Usurpatoren verdammt und als illegitime Präsidenten leidenschaftlich bekämpft.

Diesmal könnten gewisse Gruppen noch weitergehen. Bis an die Zähne bewaffnet, von Trumps Tweets und der rechten Medienblase aufgehetzt, sind sie zu einer Art von Gewalt bereit, die das Land seit Jahrzehnten nicht erlebt hat.

Es gibt allerdings auch ein anderes Bürgerkriegsszenario: Wenn Trump sich mithilfe der Gerichte und gefügiger Parteigänger an der Macht hält, obwohl er die Wahl verloren hat, könnten auch seine Gegner zu den Waffen greifen. Waffenverkäufe sind zuletzt bei Linken gestiegen, berichten US-Medien.

Das Kennzeichen einer reifen Demokratie ist es, dass politischer Wandel auf friedliche Weise gelingt. Ob die amerikanische Demokratie 240 Jahre nach ihrer Geburt dazu noch in der Lage ist, werden die kommenden Wochen zeigen. (Eric Frey, 2.11.2020)