Einsam führt dieser Herr seinen Hund beim Eiffelturm Gassi: Frankreich hat schon bessere Zeiten gesehen.

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Asterix hatte alles vorhergesehen: Wie sein Dorfchef haben die Gallier derzeit nicht nur Angst, sondern die Gewissheit, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Und zwar gleich doppelt. Zur Rückkehr aus den Herbstferien erlegt ihnen Präsident Emmanuel Macron unerwartet einen neuen Lockdown auf. Es ist zwar nur eine Light-Version, da das Arbeiten noch erlaubt ist. Aber den Franzosen kommt es vor, als bestünde ihr Leben nur noch aus dem garstigen Pariser Pendler-Slogan "métro, boulot, dodo" (U-Bahn, Arbeiten, Schlafen).

Angereichert wird er durch die tägliche Angst vor der Ansteckung: Ab nächster Woche müssen sogar die sechsjährigen Knirpse in der Schule Schutzmasken anlegen; bisher galt die Tragepflicht ab elf Jahren. Die Großeltern bekommen ihre Enkel sowieso nur noch per Handyschirm zu sehen. Theater, Kinos, Restaurants, sogar die geliebten Bistros machen wieder einmal dicht, und einige wohl für immer: Allzu viele Wirte wissen, dass ihr gebeutelter Betrieb die zweite Welle nicht überleben werden.

"Zu viel ist zu viel"

Wahrlich, Savoir-vivre geht anders. Zumal nun auch noch die Terrordrohung dazukommt. Und wie die Corona-Krise packt sie Frankreich abrupt, unvorhersehbar in ihrem Ausmaß und ihrer Gewalt. Nach dem Geschichtslehrer Samuel Paty bei Paris sind in Nizza drei Kirchgänger mit bloßer Messerklinge ermordet worden. "Zu viel ist zu viel, verstehen Sie?", klagte eine Frau in den Fünfzigern beim Tatort vor Journalisten. Sie erzählte: Ihre Tochter, die bei dem furchtbaren Lastwagenattentat von 2016 auf der Strandpromenade von Nizza (87 Tote) verletzt worden sei, habe sich zur Krankenhelferin ausbilden lassen, ihr Sohn sei zur Armee gegangen. Offenbar für nichts, meinte die Bewohnerin von Nizza, um auszurufen: "Wir leben nur noch mit der Angst. Das muss endlich aufhören!"

Ein frommer Wunsch. Auch Covid macht Angst. Ab Mitte November könnte es in Frankreich landesweit an Beatmungsgeräten mangeln. Und dann? Der Staatsführung wird vorgehalten, sie habe den Sommer verschlafen, die zweite Welle unterschätzt und zu wenig antizipiert. Umso prompter geht Macron, der 2022 wiedergewählt werden will, gegen die andere Bedrohung vor. Am Freitag hat er 14 "radikalisierte Ausländer", das heißt Islamisten, des Landes verweisen lassen. Da sie keinen direkten Bezug zu den neusten Terroranschlägen haben, wird gefragt, warum gerade jetzt. Warum nicht jetzt, antwortet Innenminister Gérald Darmanin. Er weiß, dass seine Mitbürger hinter ihm stehen – ja, dass sie noch viel weiter gehen würden. "Warum hat man diesen Kerl nicht gleich erledigt?", meinte in Nizza eine andere Frau, nachdem der verletzte Attentäter in Spitalspflege gebracht worden war.

Entschlossene Franzosen

Frankreichs Rechtsstaat funktioniert, das hat sich auch während und nach dem Anti-Terror-Notstandsrecht von 2015 bis 2017 gezeigt. Wobei vieles gar keine Rechtsfrage ist, sondern eine Frage der Auslegung, das heißt des politischen Willens. Diesbezüglich scheinen die Franzosen entschlossener denn je. Pech für die Islamisten: Die Bedrohung durch die Corona-Krise hat die Bestimmtheit der Bürger und der Regierung nur noch gestärkt. "Wir merken, dass wir verletzlich sind", sagte Macron zur Fernsehnation. Oder sogar vergänglich: Niemand wisse, wie Frankreich aus dieser Krisenzeit hervorgehen werde, erklären die Pariser Philosophen für einmal ganz bescheiden. In der Kathedrale von Nizza las der Pfarrer am Freitag aus der Offenbarung des Johannes, auch Apokalypse genannt: Er habe einen neuen Himmel und eine neue Erde gesehen, denn der erste Himmel und die erste Erde seien vergangen.

Allein, das tausendjährige Frankreich gedenkt nicht so schnell zu vergehen. Die Nation der Résistance gibt nicht klein bei. Sie hat eine bewegte Vergangenheit und viele Kriege überstanden – davon zeugen die in Stein gemeißelten Listen der in den Weltkriegen verstorbenen Soldatensöhne, zu sehen auf allen Dorfplätzen des weiten Landes. Resignation ist in Frankreich nirgends auszumachen. Eher ein gewisser Fatalismus gegenüber all den nicht mehr abreißenden Viren- und Jihad-Wellen. Ausstehen, lautet die französische Devise. Es wächst sogar ein Gefühl nationaler Solidarität, vielleicht der Wunsch, die Zeitenwende auszunützen, das Leben anders, besser anzupacken. Denn der Himmel bleibt, wie die Gallier insgeheim auch wissen, auf jeden Fall oben. (Stefan Brändle aus Paris, 30.10.2020)