"Ich musste gewisse Dinge akzeptieren, ins Leben integrieren, abschließen."

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Beim Bootshaus des Hotels Grafengut am Attersee klatschen kleine Wellen sanft gegen den Steg, ansonsten herrscht Stille. Gerlinde Kaltenbrunner genießt Momente wie diesen, aber auch solche, wie jenen am 23. August 2011, als sie im siebenten Versuch den Gipfel des K2 erreicht hatte. "Danke, danke, danke", hat sich die Oberösterreicherin damals gedacht. "Alles ist stillgestanden. Ich spürte eine starke Verbundenheit mit allem. Ich hatte keinen Wunsch, keinen Zweifel, keine Angst, keine Frage mehr. Mir war aber klar, dass es erst die Hälfte des Weges war", sagt die 49-Jährige über jenen Moment, in dem sie Geschichte geschrieben hat. Mit der Besteigung des mit 8.611 Metern höchsten Berges der Welt nach dem Mount Everest avancierte sie zur ersten Frau, die alle 14 Achttausender ohne Flaschensauerstoff bestiegen hat.

STANDARD: Sind Sie nach Erfüllung Ihres Traums in das sprichwörtliche Loch gefallen?

Kaltenbrunner: Die Achttausender haben viele Jahre mein Leben bestimmt. Nach dem K2 war klar, dass ich es abschließen werde. Ich habe alles noch einmal Revue passieren lassen, habe verstanden, dass ich viel Beistand hatte. Ich bin danach nie in ein Loch gefallen. Es hat aber gedauert, bis ich mich von dem Leben davor verabschiedet hatte. Ich bin gleich im nächsten Frühling zum Nuptse, einem schönen Siebentausender, aufgebrochen. Das Expeditionsleben taugt mir immer noch sehr, aber ich bewege mich nicht mehr in diesen Gefilden. Berge sind für mich unglaubliche Kraftplätze.

STANDARD: Wohin ging die Reise danach?

Kaltenbrunner: Ich verspürte das Anliegen, die Erfahrungen mit Vorträgen und Seminaren weiterzugeben, und Hilfsprojekte in Nepal und Pakistan zu unterstützen, Schulen aufzubauen. Ich sehe Sinn darin, Menschen dabei zu unterstützen, ihren Weg zu gehen. Manchmal müssen auch Umwege in Kauf genommen werden, um das zu erreichen, was man sich vornimmt. Mein Weg hat über die Achttausender geführt.

STANDARD: Ihre Karriere war auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben, der Vergänglichkeit und dem Tod. Hat Sie nie abgeschreckt, dass in großen Höhen immer wieder erfrorene Bergsteiger den Weg säumen?

Kaltenbrunner: Ich versuche nichts auszublenden, sondern überall hinzuschauen. Wenn mir etwas Angst macht, dann schaue ich hin. Ich setzte mich von außen betrachtet großen Risiken aus, aber ich versuchte, sie bestmöglich zu minimieren. Risiko gibt es nicht nur auf den Achttausendern. Ich habe mich immer mit dem Thema beschäftigt, was zu tun ist, wenn etwas Tragisches passiert. Ich habe mich viel mehr mit Leben, Vergänglichkeit und Tod auseinandergesetzt, als ganz viele Menschen und das schon früh, als meine Schwester ihren Mann verloren hat. Viel habe ich auch durch Supervisionen in meiner Zeit als Krankenschwester gelernt, weil ich viele Sterbende begleiten durfte. Ich bin überzeugt, dass wir den Körper verlassen, wenn es zu Ende geht, aber dass es noch sehr viel mehr gibt.

STANDARD: Am Dhaulagiri wurden Sie 2007 mit Ihrer eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. Wie brenzlig war die Situation?

Kaltenbrunner: Ich war allein im Zelt, als sich bei starkem Sturm ein kleines Schneebrett löste. Direkt am Grat, wo seit 50 Jahren die Leute ihre Zelte aufstellen. Eines wurde eingedrückt und zubetoniert. Mich hat es mit dem Zelt weggerissen, ich konnte mich befreien, aber es war sehr knapp. Zwei Spanier hatten nicht so ein Glück. Das Leben ist vergänglich, manche erwischt es früher, andere später. Ich musste mich intensiv damit beschäftigen, um zu verstehen, dass ich noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte, meine Zeit noch nicht um war. Es verarbeiten und nach vorne schauen konnte ich erst, als ich wieder auf Expedition gegangen bin. Drei Wochen später bin ich zum Unverständnis meiner Familie wieder aufgebrochen.

Kaltenbrunner im Rahmen der ersten zwei Besteigungsversuche des K2 im Jahr 2007.
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STANDARD: 2010 stürzte mit Fredrik Ericsson ein Kollege und guter Freund am K2 vor Ihren Augen 1.000 Meter in die Tiefe. Welche Gedanken hatten Sie ein Jahr später am Gipfel?

Kaltenbrunner: Als es passierte, habe ich mir gedacht: Bitte, es darf nicht sein! Als ich ein Jahr später am Gipfel stand, habe ich mir gedacht, dass all meine Versuche mit all den Erfahrungen so sein mussten. So tragisch das auch war, so wichtig war es für mich, um mich weiterzuentwickeln. Ich musste gewisse Dinge akzeptieren, ins Leben integrieren, abschließen. Alles was geschieht, ist nicht umsonst, auch wenn es bitter ist im Moment.

STANDARD: Wann erfolgte die Initialzündung zum Höhenbergsteigen?

Kaltenbrunner: 1986 habe ich mit 16 einen Vortrag über den K2 gesehen, als die Tragödie passierte, bei der leider etliche Menschen ihr Leben verloren haben. Willi Bauer und ein paar andere Leute waren dabei, die ich gut kannte. Auch Alfred Imitzer aus Spital am Pyhrn, der nicht mehr zurückkam. Das war eine tragische Geschichte. Gleichzeitig hat mich die großartige Landschaft mit dieser Kargheit im Karakorum fasziniert. Die bizarren Felstürme, den Concordiaplatz und die unfassbar hohen und majestätischen Berge wollte ich mir in natura anschauen. Durch den Kontakt zu Gleichgesinnten ist dann mehr und mehr der Wunsch entstanden, einen ganz hohen Berg zu besteigen.

STANDARD: 1994 rief Sie mit dem Broad Peak der erste Achttausender. Wie ist es gelaufen?

Kaltenbrunner: Ich habe nicht gewusst, wie es mir gehen wird. Halte ich die große Höhe aus, kann ich es derschnaufen? Flaschensauerstoff kam für mich nie in Frage. Ich wollte es aus eigener Kraft schaffen, auch ohne Sherpas und Hochträger. Ansonsten hätte ich mir niedrigere Ziele gesteckt. So hat es sich entwickelt. Und es hat mich nicht mehr losgelassen. In Pakistan war ich das erste Mal in einem wirklich armen Land unterwegs. Ich habe gesehen, mit welch einfachen Mitteln sie ihr Leben bestreiten und trotzdem Spaß miteinander haben. Es geht auch ganz ohne Alkohol. Das Reduzieren auf das Allernotwendigste beim Packen ist spannend, es braucht nicht viel, um in eine glückselige Stimmung zu kommen. Auch zuhause miste ich regelmäßig aus, weil es gut tut und den Geist befreit. Mit ganz wenig kann man sehr viel machen. Das ist Teil der Faszination für mich.

Flaschensauerstoff kam für Kaltenbrunner nie infrage. "Ich wollte es aus eigener Kraft schaffen. Ansonsten hätte ich mir niedrigere Ziele gesteckt."
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STANDARD: Welche Erkenntnisse nahmen Sie mit zurück?

Kaltenbrunner: Ich durfte gleich bei der ersten Expedition lernen, mich in Geduld zu üben, meinen Körper ganz und gar wahrzunehmen, mich nicht selbst zu beschummeln. Der Körper sendet Warnsignale, wenn irgendetwas schief läuft. Eine Höhenkrankheit lässt sich vermeiden, wenn man in seinen Körper hineinhört. Es zählt jeder Schritt und Achtsamkeit ist das oberste Gebot. Das war auf einmal sonnenklar. Mit Leichtsinnigkeit verlierst du dort oben dein Leben. Mit diesen Kernerkenntnissen bin ich heim. Das oberste Prinzip ist die gesunde Rückkehr.

STANDARD: Haben Sie sich jemals mit der Frage konfrontiert, was Menschen in diesen unwirtlichen Höhen eigentlich verloren haben?

Kaltenbrunner: Wenn es zu extrem war, die Lawinengefahr zu groß, der Steinschlag zu arg, dann war klar, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Wenn es stark stürmt, dann bläst es dich eh weg. Dann haben wir da oben nichts verloren. Wir haben oft umgedreht und sind ohne Gipfelerfolg zurückgekommen. Aber ich habe es immer wieder probiert und mir gedacht, irgendwann wird mich der Berg schon hinauflassen. Ich kommuniziere ja auch immer irgendwo mit dem Berg und bitte um Erlaubnis, hinauf zu dürfen. Das klingt komisch, aber das mache ich einfach.

STANDARD: Die Verpflegung in großen Höhen ist nicht unproblematisch. Worauf kommt es an?

Kaltenbrunner: Blut dickt in der Höhe ein. Das gilt es zu vermeiden. Ich habe ein paar Mal bei anderen Bergsteigern beobachtet, dass sie wirres Zeug geredet haben. Wenn sie dann einen Liter getrunken haben, ging es ihnen schnell wieder besser. Immer wieder ist mir das Essen ausgegangen, aber mir war klar, dass ich immer ausreichend Gas mitnehmen muss, damit ich ja genug Schnee schmelzen kann. Das ist das Um und Auf. Das wird immer noch unterschätzt. Da oben schmeckt dir nichts mehr, man hat keinen Appetit und keinen Durst mehr. Das ist die Gefahr.

Kaltenbrunner hatte stets ausreichend Gas mit, um genug Schnee schmelzen zu können. Hoch oben ist viel Trinken essenziell.
Foto: APA/DANIEL BARTSCH

STANDARD: Wie löst man das Problem?

Kaltenbrunner: Wenn du auf 8.000 Meter ankommst, schreit der Körper erst einmal nach Ruhe. Zelt aufstellen, hineinlegen. Aber ich wusste, erst wenn ich ausreichend getrunken hatte, an die sechs Liter, durfte ich mich hinlegen. Ich wollte, dass es mir gut geht, dass ich es nicht als Qual empfinde. Ich gehe hinauf, weil ich etwas erfahren möchte. Das heißt aber nicht, dass es nicht anstrengend ist, es ist bis aufs Äußerste anstrengend. Aber das gehört im Moment dazu. Wenn ich das Zelt aufgestellt und den Kocher gestartet hatte, dann kam ich zur Ruhe.

STANDARD: Reinhold Messner hat Ihre Leistungen nicht entsprechend gewürdigt, Ihnen unter anderem vorgeworfen, dass es sich bei einigen Ihrer Besteigungen um "Pistenalpinismus" gehandelt habe.

Kaltenbrunner: Dieses Thema ist abgeschlossen. Ich bin total in Frieden mit ihm. Der Vorwurf, dass ich mich an den Fixseilen der anderen raufziehe, ist schlichtweg nicht wahr. Ich war oft auf Normalrouten unterwegs, aber nicht nur. Die Shishapangma-Südwand ist eine anspruchsvolle Route, genauso der K2-Nordpfeiler, beide weit weg von Normalwegen. Selbiges gilt für die Besteigung des Makalu oder der Annapurna.

National Geographic

STANDARD: Als Extrembergsteigerin sind Sie in eine Männerdomäne eingedrungen. Wurden Ihnen Steine in den Weg gelegt?

Kaltenbrunner: Anfangs haben sie mich nicht wirklich wahrgenommen. Am Weg zu meinem achten Achttausender, am Gasherbrum, sind viele auf mich zugekommen, und haben mich nach meiner Meinung und meiner Taktik gefragt und wie ich das Wetter einschätze. Als ich allein am Nanga Parbat war, waren die Russen und Kasachen zunächst skeptisch. Sie kannten eine andere Kultur. Die Frau ist daheim, hat die Rolle der Mutter, die den Haushalt schupft. Das hat nicht in ihr Bild gepasst. Mit den Erfolgen hat meine Meinung mehr Wichtigkeit bekommen."

STANDARD: Mussten Sie um Gleichberechtigung am Berg kämpfen?

Kaltenbrunner: Ich war als Kind schon sehr selbstständig, wollte immer meine Sachen tragen und dann war eben mein Rucksack auch 17 Kilogramm schwer. Manchen hat es vielleicht nicht gepasst, dass ihre Leistung geschmälert wird, weil ich das auch geschafft habe. Ich habe mich aber nicht hineingesteigert. Viele männliche Kollegen konnten sicher auch etwas lernen, sensibel mit sich umzugehen, auf die Intuition zu hören und nicht auf Biegen und Brechen hinaufzumüssen.

STANDARD: Sie waren als Veganerin am Everest. Veganismus und Spitzensport schließen einander nicht aus. Was sind die Vorteile?

Kaltenbrunner: Ich ernähre mich seit vielen Jahren rein pflanzlich, habe sicher den einen oder anderen inspirieren können, dass es gar nicht so vorteilhaft ist, Käseomelette in der Früh zu essen, das stundenlang im Magen liegt und viel Sauerstoff zur Verdauung verbraucht. Lieber vier, fünf gekochte Erdäpfel. Die Vorteile sind: schnellere Regeneration, verkürzte Schlafzeit, besserer Schlaf, besseres Hautbild, geistige Klarheit, keine Müdigkeitseinbrüche nach dem Essen, auf natürliche Weise topfit zu sein und ein gestärktes Immunsystem zu haben.

STANDARD: Sie bieten mit ihrem Partner Yoga-Seminare in Kombination mit Bergwandern, Skitouren und Langlauf an. Der Sinn dahinter?

Kaltenbrunner: Es geht darum, die Gedanken zur Ruhe zu bringen, zentriert zu sein, abzuschalten. Dazu gibt es nur rein biologisch-vegane Ernährung. Mit Pestiziden, Herbiziden, Fungiziden vergiften wir unsere Böden und uns selbst. Wenn ich etwas verändern könnte, dann wäre das Erste, dass ich ganz Österreich auf biologische Landwirtschaft umstelle. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass sich die Leute gesund ernähren, weil dann können sie körperlich und geistig viel bewirken. Auch Meditation ist wichtig, damit man in schwierigen Situationen ruhig bleiben kann. Ich glaube nicht, dass mir alles so gelungen wäre, wenn ich nicht täglich meditiert hätte.

STANDARD: Inwieweit hat Corona Ihr Leben verändert?

Kaltenbrunner: Mein Hauptstandbein sind die Vorträge, sie sind zu hundert Prozent weggebrochen. Es gilt auch das zu akzeptieren, ich kann es nicht ändern. Zumindest konnte ich wieder ein paar Seminare durchführen. Ich sehe tagtäglich das Leid in Nepal und Indien, wo wirklich ums Überleben gekämpft wird. Das ist ein wahres Problem. Leider wurden auch die 24-Stunden-Benefizwanderungen abgesagt, mit denen wir viel Geld für Schulen in Nepal sammeln konnten. Es trifft wieder die armen Leute. Ich hoffe, dass sich alles wieder einigermaßen normalisiert. Für viele Leute, die ihre Arbeit verloren haben, ist es tragisch. Vor allem wenn sie eine Familie zu versorgen haben. (Thomas Hirner, 2.11.2020)