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In den USA kann die Justiz den Plattformen wenig anhaben.

Foto: Reuters/Thilo Schmuelgen

Der Wechsel von Freund zu Feind vollzieht sich bei Donald Trump recht flott, davon können zig ehemalige Berater und Kabinettsmitarbeiter ein Lied singen. Die Beziehung zwischen Trump und dem Social Network Twitter erwies sich da als etwas langfristiger: Sie währt bereits siebeneinhalb Jahre, eine Präsidentschaft und rund 40.000 Tweets. "Ich liebe Twitter", tweetete Trump 2012, damals noch "nur" Milliardär und Reality-TV-Star. "Es ist, wie eine Zeitung zu besitzen – nur ohne die Verluste." Seit ein paar Monaten jedoch ist der Beziehungsstatus, nun ja: etwas komplizierter. "Twitter unterdrückt die Meinungsfreiheit komplett – und ich als Präsident werde nicht zulassen, dass das passiert", sonderte Trump im Mai einen erbosten Tweet ab.

Wenige Stunden zuvor hatte der US-Präsident in einem Tweet wieder einmal zum Rundumschlag gegen die Briefwahl ausgeholt. Briefwahlstimmen seien "betrügerisch", Briefkästen würden ausgeraubt, Stimmzettel gefälscht und sogar "illegal ausgedruckt". Dem kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom von den Demokraten warf er vor, wahllos Stimmzettel zu verschicken. Eine glatte Lüge, befand nicht nur CNN, sondern auch Twitter – und versah den Tweet mit einem Warnhinweis und Faktencheck.

Darauf reagierte Trump mit einer Executive Order. Der Erlass mit dem Titel "Verhinderung von Online-Zensur" ist in erster Linie eine Aneinanderreihung trotziger Vorwürfe gegen Internetkonzerne wie Twitter, Facebook, Instagram und Youtube. Firmen, die Meinungen unterdrücken, mit denen sie nicht übereinstimmen, sollten künftig nicht mehr als Plattformen, sondern als "content creator", also Inhalte-Anbieter, behandelt werden – was massive Auswirkung auf deren Haftungsschutz hätte. Laut Experten ist der Erlass zwar rechtlich zahnlos, er wirft aber die alte Frage auf: Was darf man auf Facebook, Twitter und Youtube sagen?

Paradoxe Verfassung

Diese Frage wird in Zeiten, in denen viele Plattformen mehr Nutzer haben als die größten Staaten Einwohner, ihr Einfluss auf Wahlen nicht wegzudiskutieren ist und sie klassische Medien teils ersetzen, immer dringlicher. Final beantwortet wurde sie bislang nicht. Zumal die Diskussion in Europa und in den USA nicht unterschiedlicher sein könnte.

In kaum einem anderen Land identifizieren sich Bürger so stark mit einem Rechtstext wie die US-Amerikaner mit ihrem First Amendment – der Redefreiheit, die auch Trump in seinem Erlass verletzt sieht. Der heilige Gral der US-Verfassung verbietet der Regierung – bis auf wenige Ausnahmen –, Gesetze zu beschließen, welche die freie Meinungsäußerung beschränken. Gleichzeitig muss sich der Staat heraushalten, wenn private Unternehmen genau das tun.

"Das ist paradox und exzentrisch", findet Stefan Theil. Der Deutsche leitet ein Forschungsprojekt zu Meinungsfreiheit in sozialen Medien an der Universität von Oxford. Facebook könnte von einen Tag auf den anderen beliebig Inhalte verbieten oder löschen, der Regierung seien die Hände gebunden. Gleichzeitig kann der Staat kaum etwas gegen Fake-News und Hasspostings unternehmen.

Den Appell, Hate-Speech und Desinformation zu sperren, richten Aktivisten in den USA daher vor allem an die Plattformen selbst. Diese nehmen ihre Verantwortung zunehmend wahr, wohl auch aus Angst, nach Skandalen schon wieder als Superspreader von Fake-News zu gelten. Neben Twitter versehen auch Facebook und Google fragwürdige Postings mit Markierungen, versenken sie tief unten im Newsfeed oder löschen sie ganz. Selbstauferlegte Community-Richtlinien sollen die Plattformen zu freundlichen Orten machen. Dabei diktiert aber ein amerikanisches Unternehmen der Welt, was gut und was böse ist. "Das unterminiert das Ideal der Meinungsfreiheit", sagt Theil. Aber was ist die Alternative?

Laisser-faire machte Internet groß

Zumindest auf dem Papier gibt es weltweit einen kleinsten gemeinsamen Nenner der Menschenrechte. Diesen MindestStandards könnten sich Plattformen selbst verpflichten, anstatt Regeln nach eigenem Ermessen aufzustellen. Oder man könnte es doch mit staatlicher Regulierung zu versuchen. Viele Entscheidungen des Supreme Court zur Redefreiheit kommen aus den 1960er- und 1970er-Jahren – "man könnte ausloten, was heute geht", sagt Theil. "Aber dafür fehlt in den USA derzeit der Appetit."

Das kann man von Europa nicht behaupten. Nach Deutschland will auch Österreich ab 2021 Onlineplattformen dazu verpflichten, Hasspostings zu löschen. Langfristig soll eine EU-Verordnung die sozialen Medien europaweit in die Pflicht nehmen.

"Wenn wir Google und Facebook regulieren, müssen wir aufpassen, dass wir die guten Teile des Internets nicht kaputtmachen", warnt Thomas Lohninger von der Bürgerrechtsorganisation Epicenter Works. Sowohl die USA als auch die EU entbinden soziale Medien derzeit von der Pflicht, Inhalte ihrer User im Vorhinein zu kontrollieren. Plattformen müssen nicht vom Schlimmsten ausgehen, können ihre User "einfach machen lassen" und erst nach Kenntnis von Illegalität löschen. Genau diese Haftungsausschlüsse sind für Lohninger "mit ein Grund dafür, warum wir heute ein diverses, innovatives und spannendes Internet haben – und nicht nur Kabelfernsehen".

Facebooks Notfallmodus für den 4. November

Mindestens genauso wichtig wie Regeln gegen Hate-Speech sei es, Einblick in Algorithmen zu bekommen. "Facebook verkauft unsere Aufmerksamkeit", sagt Lohninger. "Und die erhält es durch immer extremere, emotionalere Inhalte, die wir empfohlen bekommen." Was User geradezu in verschwörungstheoretische Ecken treibe. Plattformen müssten offenlegen, wie sie Newsfeeds und Empfehlungen generieren, um eine breite öffentliche Diskussion darüber zuzulassen, welche Inhalte wir warum sehen.

Für die aktuelle US-Wahl ist es dafür zu spät. Für den Fall, dass es nach dem Wahlabend zu Unruhen in den USA kommen könnte, hat Facebook drastische Mittel vorbereitet. Die Plattform würde dann in einen Notfallmodus mit entschärften Newsfeeds schalten – der ursprünglich für "Hochrisikoländer" wie Sri Lanka oder Myanmar entwickelt wurde. (Philip Pramer, 2.11.2020)