Wer wird es?

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Das gehört nicht zu den Dingen, die uns als Nation wieder zusammenbringen", sagt Dr. Sam Wang, den Löffel mit der in Salzlösung eingelegten Heuschrecke vor dem Mund und mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich fragt, wie er je in diese Situation geraten konnte. "Sie sollten es trotzdem tun", frohlockt CNN-Moderator Smerconish schadenfroh. Der Ekel ist dem renommierten Statistiker der Princeton University anzumerken, trotzdem beißt Wang ins Krabbeltier. Spielschulden sind Ehrenschulden. Und der Demoskop hatte vor der Wahl 2016 verkündet, er werde "einen Käfer fressen", sollte Donald Trump siegen – die englische Entsprechung von "Dann fress ich einen Besen!". CNN nahm ihn zu seinem Leidwesen beim Wort.

CNN

Die Szene ist Sinnbild einer Branche, die mit Trumps Wahlsieg vor vier Jahren ihr Waterloo erlebte. Der Schluss, den man damals aus dem Umfragen zog, erwies sich als grundfalsch: Hillary Clinton, so nahm man an, würde sicher siegen. Eine solche Fehleinschätzung darf sich nicht wiederholen. Seit Wochen sitzen die Demoskopen daher auf Nadeln. Hoffnung gibt ihnen, dass das Bild diesmal ein anderes ist. 52 zu 43 Prozent lag der Demokrat Joe Biden Stand Freitag vor Trump, 2016 lag Clinton so kurz vor der Wahl nur 47 zu 44 Prozent voran. Hoffnung gibt auch, dass die Daten schon damals weniger falsch waren als die Schlussfolgerung, die viele aus ihnen zogen. 48 zu 46 für Clinton war das Ergebnis, nur knapp vom Umfragemittel entfernt.

Die Zukunft ist Big Business

Eine nochmalige Panne wie vor vier Jahren wäre ein harter Schlag für eine Branche, die in den USA ein riesiges Business ist. Umfrage- und Analyseseiten wie fivethirtyeight.com oder realclearpolitics.com sind seit Jahren die tägliche Anlaufstelle für all jene, die sich mit US-Politik beschäftigen. In Wahlkampfzeiten verzeichnen sie Rekordzugriffe – genau wie die Twitter-Accounts ihrer Gründer, die fast zu Stars mutieren. Fivethirtyeight-Chef Nate Silver zählt 3,4 Millionen nervöse Twitter-Follower, seine Statistiker-Kollegen Nate Cohn (New York Times, 316.066 Follower) und Harry Enten (CNN, 186.850) gehören zu den prominenteren politischen Journalisten Amerikas. Fast jedes große US-Medium leistet sich mittlerweile eine Wahlvorhersage-Abteilung.

Dieser Tage üben sie alle einen rhetorischen Seiltanz. Ja, die Umfragen sähen gut aus für Biden, ja, in der Tat seien sie aus Sicht der Demokraten auch viel besser als 2016. Aber man müsse sich bitte schon stets bewusst sein, dass Umfragen Wahrscheinlichkeiten abbilden und keine Fakten.

Rund elf Prozent Siegchance wies Fivethirtyeight Trump zum Wochenende aus, errechnet auf Basis eines komplizierten Modells, das die Umfragen aller Bundesstaaten heranzieht.

Todesmeteorit Trump

Das mag nach wenig klingen, oder aber auch bedrohlich – je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet. "Wenn Sie hören, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von eins aus zehn ein tödlicher Meteorit die Erde treffen würde – dann wären Sie wohl ziemlich beunruhigt", führt Silver aus. Er wählt das plastische Beispiel mit gutem Grund: Aus Sicht der Demoskopen nämlich waren es nicht so sehr die Umfragen, die 2016 falsch lagen, sondern Konsumenten und Journalisten, die die Daten falsch interpretiert hätten. Eine Siegwahrscheinlichkeit von zehn Prozent sei eben nicht null, sagen die Statistiker, und eine von 30, wie Trump sie 2016 am Ende aufwies, schon gar nicht. Die Botschaft richtig zu vermitteln – das sei die große Kunst.

Auch die Demokraten haben großes Inter esse daran, das Rennen nicht schon im Vorfeld als entschieden darzustellen. Sie fürchten um die Wählermobilisierung. Und selbst die großen Medien sind erpicht darauf, trotz des klaren Umfragevorsprung Bidens das Bild eines offenen Wettkampfs zu vermitteln – steht im Falle eines erneuten Sieges Trumps doch die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Bemüht suchen sie daher nach Anhaltspunkten für versteckte Stärken des Präsidenten.

Als möglicher Erklärungsversuch für einen überraschenden Triumph Trumps werden immer wieder die "Shy Trump Voters" herbeigezogen: jene Wähler, die sich nicht trauen, in Umfragen zu ihren Überzeugungen zu stehen. Fünf Prozent seien das in etwa, schätzt das den Republikanern nahestehende Umfrageinstitut Trafalgar Group und preist diesen Wert in seine Ergebnisse ein. Aus statistischer Sicht ist dieses Vorgehen sehr umstritten, da einerseits die Evidenz fehlt – und weil andererseits die Umfragen 2016 deutlich weniger weit danebenlagen. Institutschef Robert Cahaly ist so kurz vor der Wahl dennoch ein medial gefragter Mann, der jüngst auch in der ZiB 2 erklären durfte, wieso er an vier weitere Jahre Trump glaubt. Auch der Big-Data-Forscher Christoph Glauser ist derzeit omnipräsent. Der Wissenschafter der Uni Zürich hat die Frequenz von Google-Suchen analysiert und kommt so zu der Überzeugung: Trump liegt voran. Was von Medien fröhlich aufgegriffen wird.

Fix ist nix

Andere, die 2016 noch an Trump glaubten, tun das diesmal nicht mehr. Der Historiker Allan Lichtman etwa hat seit 1984 alle Wahlergebnisse richtig vorhergesagt. Diesmal prognostiziert sein auf 13 Faktoren bauendes Modell Trump eine klare Niederlage. Auch Dave Wasserman sieht die Lage anders als 2016. Für den Cook Report, der seit Jahrzehnten die US-Politik beobachtet, analysiert er, was sich in einzelnen Wahlkreisen tut. Vor vier Jahren habe es "große rote Alarmsignale gegeben", schrieb er auf Twitter – diesmal sei das nicht der Fall. "Ich habe fast schon genug gesehen", setzte er nach und meint damit, dass er einen Biden-Sieg für fast sicher hält. Fast, das ist das Schlüsselwort. Schließlich will heuer niemand einen Besen fressen müssen – oder gar eine Heuschrecke. (Manuel Escher, 31.10.2020)