Matteo Salvini nützt den Nizza-Terror für Polemik gegen die italienische Regierung.
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Stefan Brändle aus Paris, Im Namen von Ministerpräsident Giuseppe Conte und von Innenministerin Luciana Lamorgese entschuldige ich mich beim französischen Volk und bei den Kindern der Toten und Geköpften." Mit polemischen Worten sorgte Matteo Salvini, Chef der oppositionellen italienischen Rechts-außen-Partei, in seiner Heimat und in Frankreich für Aufsehen. Denn es seien Conte und Lamorgese, so Salvini, die die "moralische Verantwortung" für den Terrorakt am Donnerstag in der Kathedrale im südfranzösischen Nizza zu tragen hätten.

Italiens Regierung habe die Ankunft von Migranten aus Tunesien nicht gestoppt – sie habe es dem Attentäter Brahim A. ermöglicht, nach Europa zu gelangen. Der Rechtspopulist, selbst ehemaliger Innenminister, forderte seine parteilose Nachfolgerin zum Rücktritt auf.

Tatsächlich war der 21-Jährige am 20. September an Bord eines Flüchtlingsbootes im Hafen von Lampedusa angekommen, wurde dort erkennungsdienstlich überprüft und dann 14 Tage lang auf einem Quarantäneschiff untergebracht. Am 8. Oktober ging A., der einen Abschiebebescheid erhalten hatte, in Bari an Land – und tauchte sofort unter.

Der Fanatiker, der nur drei Wochen später in Nizza drei Menschen töten sollte, konnte also illegal und unbehelligt in Italien – und damit in Europa – einreisen. Das irritiert in Italien nicht nur die Rechte.

Nur die halbe Wahrheit

Was Salvini aber verschweigt: Bezüglich der tunesischen Migranten sind dem italienischen Staat weitgehend die Hände gebunden. Was mit A. passiert ist, wäre unter Innenminister Salvini mit größter Wahrscheinlichkeit ähnlich abgelaufen. Auch der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt 2016, Anis Amri, war über Lampedusa nach Europa gelangt. Als er einreiste, war Salvinis Parteifreund Roberto Maroni Innenminister.

Bei tunesischen Immigranten ergeben sich für Italien zwei Probleme. Das erste: der kurze Seeweg. Die meisten Flüchtlinge aus Tunesien schaffen es autonom bis Lampe dusa, für ihre kleinen Boote können die Häfen nicht so einfach geschlossen werden wie für die großen Schiffe der Küstenwache und der NGOs, denen Salvini tage- oder auch wochenlang die Landung verwehrte.

Das zweite Problem: Aus Tunesien kommen mit Abstand die meisten Migranten nach Italien; weit mehr als abgeschoben werden können, allein heuer über 110.000. Laut bilateralem Rücknahmeabkommen können derzeit – theoretisch – pro Woche 80 Tunesier mit Charterflügen zurückgebracht werden. Alle anderen müssten monate- oder jahrelang in Abschiebezentren gesteckt werden. Das ist weder praktisch durchführbar noch juristisch möglich. In Corona-Zeiten ist die Abschiebung noch sehr viel schwieriger geworden.

In Schubhaft kommen vorzugsweise diejenigen Personen, die wegen ihrer radikalen Gesinnung aktenkundig geworden oder anderweitig vorbestraft sind. Das war bei A. nicht der Fall: Er war sowohl für die tunesischen wie auch für die italienischen Behörden unbekannt. Somit wurde mit ihm verfahren wie mit anderen unverdächtigen tunesischen Migranten: Er erhielt bloß einen Ausweisungsbescheid in die Hand gedrückt, in dem er aufgefordert wurde, Italien innerhalb der nächsten sieben Tage zu verlassen. Das tat er – allerdings Richtung Frankreich. (Dominik Straub aus Rom, 30.10.2020)