Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) sind gefordert, die Entscheidungen der vergangenen Wochen aufzuklären.

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Man fühlt sich dieser Tage wieder ins Frühjahr zurückversetzt. In jene Zeit, als das Coronavirus für Europa etwas Neuartiges war und viele Länder, darunter auch Österreich, auf dem falschen Fuß erwischte. Damals stiegen die Infektionszahlen innerhalb kürzester Zeit rapide an. Die türkis-grüne Regierung fuhr im Eiltempo das Land herunter. Und die Regierung war damals schon zeitlich knapp dran. Wäre der Lockdown nur eine Woche später erfolgt, resümierte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), die Spitalskapazitäten in Österreich wären am Rande ihrer Möglichkeiten gestanden.

Nun stehen wir wieder an diesem Punkt. Nur wirkt die Situation heute deutlich diffuser als damals. Man könnte meinen, dass die türkis-grüne Regierung und ihre Krisenstäbe heute mehr über das Coronavirus wissen und daher Entscheidungen mit mehr Voraussicht getroffen werden können. Zuletzt wirkte die politische Spitze allerdings hektisch, das Virus trieb die Regierung nur so vor sich her. Jetzt müssen sich Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Anschober die Frage gefallen lassen, wie ihnen das alles in den vergangenen Wochen trotz allem derart entgleiten konnte.

Bis vor kurzem erteilte der Gesundheitsminister einem zweiten Lockdown noch eine Absage, nun peitscht ihn die Regierung innerhalb weniger Tage und erst kurz vor dem medizinischen Kollaps durch. Ja, die Pandemie treibt global wieder verstärkt ihr Unwesen. Das ist aber keine Ausrede für das eigene Unvermögen. Dasselbe gilt für die Performance der Bundesländerchefs.

Arbeit der Corona-Taskforce unter Verschluss

Alle wussten, dass die kältere Jahreszeit zu einer Herausforderung wird. Aber wie konnte es passieren, dass das Contact Tracing, eines der zentralen Instrumente der Virusbekämpfung, über den Sommer nicht entsprechend aufgerüstet wurde und nach nur wenigen Wochen nicht mehr ausreichend funktioniert? Warum informiert sich die Bundesregierung öffentlichkeitswirksam erst detailliert über die limitierte Bettenkapazität in den Spitälern, als ihre Grenze so gut wie erreicht war? Und aus welchem Grund ist die Datenlage über den Corona-Komplex bis heute nicht einheitlich aufgebaut und irreführend?

Das Mindeste ist es, die vergangenen Wochen vollends aufzuklären. Die Ansagen der Regierungsspitze waren seit dem Sommer retrospektiv gesehen derart widersprüchlich, dass man gerne wissen würde, ob die Beratungen in den Krisenstäben ähnlich zerfahren verlaufen sind.

Ein Anfang wäre es, dass das Gesundheitsministerium endlich einen echten Einblick in die Arbeit der Corona-Taskforce gewährt. Das hat Anschober versprochen, aber seit dem letzten Eintrag vom 9. April nicht mehr eingehalten. Die Grundlage, auf denen die politische Schritte der vergangenen Wochen fußten, muss die Regierung offenlegen. Es wäre spannend zu wissen, wie sehr sich Kurz, Anschober und Co. an den Einschätzungen ihrer Experten orientiert haben oder doch im Alleingang oder sogar in Zwietracht miteinander unterwegs waren.

Es braucht diese Diskussion, um daraus zu lernen. Einen erneutes Kommunikationschaos wie dieses samt wochenlanger hektischer Entscheidungen und Geheimnistuerei bis zum Lockdown waren alles andere als vertrauensweckend. Daraus muss die Regierung ihre Konsequenzen ziehen und die pandemische Pause nutzen, um Fehler zu beheben. Auch weil ein Lockdown nur Zeit verschafft, aber das Virus nicht verschwinden lässt. Wer sagt uns, dass wir nicht in wenigen Monaten wieder vor der gleichen Situation stehen? Der Winter steht uns erst bevor. (Jan Michael Marchart, 1.11.2020)