Viele Südosteuropa-Experten halten die Idee eines "Mini-Schengen" für einen PR-Coup der serbischen Regierung unter Aleksandar Vučić (rechts), die es geschafft hat, den Vorschlag an den US-Gesandten Richard Grenell (links) zu verkaufen.

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Wer kann, verlässt die Region. Zwischen 2000 und 2019 ist die Bevölkerung in Serbien und Bosnien-Herzegowina um sieben Prozent geschrumpft, in Albanien um sechs Prozent. Das Bruttoinlandsprodukts (BIP) aller sechs Westbalkanstaaten macht weniger als ein Prozent des BIPs der EU aus. Trotz jahrelanger Bemühungen, die sechs Nicht-EU-Staaten in Südosteuropa wettbewerbsfähiger zu machen, bleibt die Region wirtschaftlich komplett abgehängt.

Bislang ist man daran gescheitert, dass die Regierungen die eingegangenen Verpflichtungen in der regionalen Kooperation nicht erfüllt haben und es keinerlei Mechanismen gibt, sie dazu zu bringen. Auch angesichts der Pandemie, die den Westbalkan nun noch stärker ins ökonomische Abseits ziehen wird, wird seit geraumer Zeit die Schaffung eines "Mini-Schengens" beworben. Der Name ist jedenfalls irreführend, die Motive derer, die die Idee unterstützen, fragwürdig.

Unterschrift im Weißen Haus

So musste der kosovarische Premier Avdullah Hoti am 4. September, als er vom US-Präsidenten Donald Trump im Weißen Haus empfangen wurde, per Unterschrift zusichern, dem Mini-Schengen-Projekt beizutreten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Kosovo geweigert, das zu tun. Viele Südosteuropa-Experten halten die Idee eines "Mini-Schengen" für einen PR-Coup der serbischen Regierung, die es geschafft hat, den Vorschlag an den US-Gesandten Richard Grenell zu verkaufen, der wiederum damit Wahlwerbung für Donald Trump macht. In Ermangelung anderer Ideen und Erfolge hat aber auch die EU mittlerweile das Projekt "Mini-Schengen" für die sechs Nicht-EU-Mitgliedsstaaten in Südosteuropa übernommen.

Abgesehen davon, dass niemand genau weiß, was eigentlich darunter zu verstehen ist, haben der serbische Präsident Aleksandar Vučić, der mazedonische Premier Zoran Zaev und sein albanischer Amtskollege Edi Rama bereits vor einem Jahr dazu eine Willenserklärung abgegeben. Damals hieß es, dass es darum gehe, dass die Bürger aller Staaten künftig nur mehr mit dem Personalausweis die Grenzen passieren können sollen, was allerdings – abgesehen von den Bürgern Albaniens – ohnehin bereits möglich war.

Alternative zum EU-Beitritt

Montenegro und Bosnien-Herzegowina, die wie der Kosovo die Dominanz Serbiens fürchten, zeigen kein Interesse am Mini-Schengen. Doch mittlerweile wurde Bosnien-Herzegowina durch den Druck der internationalen Gemeinschaft ebenfalls in die Initiative "hineingeholt". In Montenegro ist man besorgt, dass eine Balkan-Union als Alternative zum EU-Beitritt etabliert und damit die EU-Mitgliedschaft durch etwas anderes ersetzt werden könnte. Und das wollte man in Podgorica bislang nicht.

Inhaltlich geht es bei "Mini-Schengen" mittlerweile um mehr als einen erleichterten Personenverkehr – nämlich die Schaffung eines regionalen Wirtschaftsraums, die Anerkennung von Diplomen, Ausstellung von Arbeitserlaubnissen und Studentenaustausch, sogar von einem Binnenmarkt mit allen vier Freiheiten für den Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital ist nun die Rede. Ein solcher ist aber angesichts der politischen Spannungen, des zunehmenden völkischen Nationalismus und des fehlenden Vertrauens jenseits von realistisch.

Unmögliche Zollunion

Abgesehen davon bräuchte es für einen Binnenmarkt eine Zollunion, und diese ist schon deshalb nicht vorstellbar, weil die sechs Staaten sehr unterschiedliche Zolltarife mit anderen Drittstaaten unterhalten. Serbien hat etwa ein Freihandelsabkommen mit Russland und nun auch eines mit der Eurasischen Union unterzeichnet.

"Es ist unwahrscheinlich, dass die Grenzen für Handel und Reisen zwischen den betroffenen Ländern aufgehoben werden", sagt deshalb der Doyen der südosteuropäischen Wirtschaftswissenschafter, Vladimir Gligorov, über die Mini-Schengen-Idee zum STANDARD. Die sechs Westbalkanstaaten hätten außerdem bereits Vereinbarungen mit der EU, bei denen es um Standards und Handelshemmnisse gehe. "Es gibt keine Möglichkeit für eine Synchronisierung der Politik jenseits dessen, was bereits mit der EU vereinbart wurde", resümiert er.

Erweiterung verlangsamen

Der Ökonom weist darauf hin, dass die Idee von "Mini-Schengen" der EU aber deshalb gefallen würde, weil "sie den Prozess der Erweiterung verlangsamt" und weil die EU ohnehin die regionale Kooperation aus Gründen der Sicherheitspolitik fördere. Die Versprechung eines Mini-Schengens sei zudem für Vučić und Rama eine "gute Werbung in Europa", meint er. "Aber für den Kosovo und Bosnien-Herzegowina stellt das keine Verbesserung dar. Und Montenegro will ohnedies keine Verlangsamung des eigenen EU-Beitritts", erklärt der Experte. Gligorov schlussfolgert deshalb, dass aus der ganzen Idee nichts werde – "außer viel Gerede".

Viele Wissenschafter weisen auch darauf hin, dass es bereits ausreichend regionale Initiativen gebe. Verpflichtungen zu einer intensiveren Kooperation sind im Rahmen des bestehenden regionalen Freihandelsabkommens Cefta und des Berlin-Prozesses längst vereinbart. Deshalb sieht die Mini-Schengen-Idee "nach einem weiteren Projekt regionaler Zusammenarbeit aus, das – so befürchte ich – schon bald der Südosteuropäischen Kooperationsinitiative, dem Südosteuropäischen Kooperationsprozess, der Cefta und anderen Gesellschaft leisten wird", sagt etwa der renommierte Experte Florian Bieber von der Universität Graz über die Hindernisse, die solche Initiativen bisher erfahren mussten.

Fehlender politischer Wille

"Zugleich ist der wirtschaftliche Mehrwert beschränkt, und es stellt sich die Frage, ob hierfür nicht bestehende Institutionen ausreichen, wenn das Ziel nur umgesetzt würde", fügt Bieber hinzu. "Bisher scheitern alle Bemühungen um Grenzöffnungen und einen offenen Markt in der Region am politischen Willen, nicht an den Absichtserklärungen und Institutionen", erklärt der Leiter des Zentrums für Südosteuropastudien.

Somit bleibe offen, ob es sich bei Mini-Schengen nicht doch nur um eine PR-Aktion, insbesondere von Vučić, handeln würde. Bieber weist darauf hin, dass die Kooperation zwischen Serbien und Kosovo bislang auch an Bezeichnungen für Kosovo bei Produkten gescheitert sei – denn Serbien hat den Staat Kosovo bisher nicht anerkannt, was die Beziehungen enorm verkompliziert.

Kein gleichwertiger Partner

Tatsächlich ist das regionale Freihandelsabkommen Cefta noch von der UN-Verwaltung Unmik im Kosovo im Jahr 2007 unterzeichnet worden. Danach betonte die Regierung in Prishtina, dass der Kosovo sich aus dem Abkommen zurückziehen werde, falls er nicht als anerkannte Republik Kosovo in Cefta vertreten werde. Doch dies bedürfte der Zustimmung aller Parteien, und Serbien wird das nicht tun. Sämtliche Handelsreformen müssen deshalb mühsam im Konsens getroffen werden, und der Kosovo wird von Serbien nicht als gleichwertiger Partner akzeptiert.

Insgesamt ist der Handel innerhalb der Westbalkanregion im Rahmen von Cefta zwar bereits weitgehend zollfrei, doch trotzdem braucht es Grenzkontrollen, um die Ursprungsregeln umzusetzen. In einer interessanten neuen Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) und der Bertelsmann-Stiftung werden die bisherigen Versuche, die regionale Kooperation zu stärken und damit auch das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, unter die Lupe genommen.

Sonderstellung von Serbien

Abgesehen von Cefta hat Deutschland gemeinsam mit der EU seit 2014 den Ausbau der Infrastruktur in der Region im Rahmen des Berlin-Prozesses gefördert. Insgesamt sollen vier Milliarden Euro in den Ausbau von Energie- und Verkehrsnetzen gesteckt werden.

Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass der Effekt der bisherigen Freihandelsabkommen in der Region für Serbien viel geringer ausfiel, als dies unter den fünf anderen Staaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Albanien und Nordmazedonien der Fall war. Denn Serbien – das wirtschaftlich nach dem BIP gemessen etwa gleich stark ist wie alle anderen fünf Staaten gemeinsam – weitete in den letzten Jahren vor allem seinen Handel mit der EU aus. Durch Cefta wuchs der interregionale Handel jedenfalls um über 37 Prozentpunkte. Nimmt man Serbien aus der Berechnung aus, so waren es sogar 70 Prozentpunkte.

Geografie der Feindseligkeit

Allerdings führte auch Cefta nicht zu den erhofften Investitionen in der Region. Anders als in Mittel- und Osteuropa vor dem Beitritt 2004, kam es auf dem Balkan zu keinem Boom – abgesehen vielleicht von der Fiat-Chrysler-Investition in Serbien. Entscheidend für die ausbleibende Entwicklung sei die "Geografie der Feindseligkeit", wie die Autoren der Studie die dauernden politischen Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo und innerhalb von Bosnien-Herzegowina nennen. Diese verstärke die ökonomische Schwäche der Region, so das Hauptargument.

"Serbien steht im Zentrum der Geografie der Feindseligkeit, seine Anreize für eine uneingeschränkte regionale Zusammenarbeit sind begrenzt", ist hier zu lesen. "Serbien hat mit den meisten anderen Ländern in der Region territoriale Probleme, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Dies alles führt zu einer sehr einseitigen regionalen Machtverteilung. Serbiens Nachbarn sind in fast jeder Hinsicht erheblich schwächer, inklusive Bevölkerungszahl, Militärmacht und Steuerressourcen. Infolgedessen ist es sehr schwierig, ein regionales Gleichgewicht herzustellen", heißt es in der Studie.

Territoriale Streitigkeiten als Hindernis

Die derzeitige Situation ermögliche es Belgrad jedoch, Zugeständnisse von allen Seiten zu erhalten, ohne formell auf seine territorialen Ansprüche gegenüber dem Kosovo verzichten zu müssen. Serbien habe sich zudem recht gut in die Wertschöpfungsketten der EU integriert und gleichzeitig wichtige strategische Beziehungen zu Russland und China aufrechterhalten und intensiviert. Ein Bekenntnis zu den Werten der EU ist jedoch in Belgrad nicht in Sicht. Und auch die Bevölkerung in Serbien erachtet heute einen EU-Beitritt als weniger attraktiv als jemals zuvor.

Die wirtschaftliche Entwicklung der Region sei durch die territorialen Streitigkeiten und Verfassungsblockaden jedenfalls stark beeinträchtigt. Deswegen könnten – ohne einen Durchbruch in diesen Fragen – auch regionale Kooperationsinitiativen wie etwa ein "Mini-Schengen" die Situation nicht grundlegend ändern, so die Schlussfolgerung.

Wirtschaftliche Integration in die EU

Zurzeit sei es wahrscheinlich, dass nur Nordmazedonien und Montenegro, die beide kaum "an der Geografie der Feindseligkeit beteiligt" seien, bald einen realisierbaren Weg zum EU-Beitritt finden würden. Die Studienautoren empfehlen angesichts dieser Situation, dass mehr Anstrengungen unternommen werden sollten, um ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Integration der Region in die EU zu gewährleisten.

Denn wenn man sich nur auf regionale Kooperation beschränke, würde dies zu Enttäuschungen führen. Ganz konkret schlagen die Studienautoren einen besseren Zugang zum EU-Budget, einen Beitritt zur EU-Zollunion sowie eine Erweiterung der bisherigen Abkommen mit der EU vor. Der Beitritt zur EU-Zollunion würde dazu führen, dass die Staaten ihre Zollabkommen mit jenen der EU gleichstellen müssten. Positiv wäre auch, dass Handelshemmnisse abgebaut würden. Es brauche also mehr Europa auf dem Balkan, nicht unbedingt noch weitere Ideen zur regionalen Kooperation, um zu erreichen, dass die armen Volkswirtschaften gegenüber dem wohlhabenden Wirtschaftsblock der EU aufholen können. (Adelheid Wölfl, 2.11.2020)