Fallen Hochrechnungen der möglichen politischen Haltung Einzelner bereits unter "sensible Daten"?

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Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist unabdingbar, um unsere Gesellschaft vor den unerwünschten Folgen der digitalen Revolution zu bewahren. Ansonsten drohen neben der staatlichen Überwachung wie in China die nicht minder gefährlichen Privatüberwacher und -analysten: Job-, Kredit- oder Versicherungsentscheidungen würden ausschließlich von Algorithmen getroffen: einmal abgelehnt, überall abgelehnt.

Doch unsere Informationsgesellschaft und damit zahllose Jobs basieren auf Datenverarbeitung – Plattitüde: Daten sind das neue Öl. Weltweit – und auch in Österreich – ist ein Multi-Milliarden-Euro-Markt rund um "personalisierte Werbung" entstanden.

Adressenverlage haben Datenbanken mit Marketingklassifikationen zu fast allem aufgebaut, Onlinewerbung ist ohne Customized Ads und Retargeting unter Heranziehung der US-Internet-Giganten nicht mehr vorstellbar. Das stellt das Datenschutzrecht vor große Herausforderungen.

Hier sei an Jürgen Habermas erinnert, dessen Rechtstheorie davon ausgeht, dass sich die soziale Geltung von Rechtsnormen am Grad der Durchsetzung bestimmt, also an "faktisch zu erwartender Akzeptanz in den Kreisen der Rechtsgenossen". Werden die Verbote von den Beteiligten als überbordend angesehen, dann droht das gesamte Datenschutzrecht zu scheitern.

Überspannter Grundsatz

Aktuelle Entscheidungen der Datenschutzbehörde (DSB 24.09. 2020, D205.549-2020-0.542.231 zu "Sinus-Geo-Milieus®") und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 20.08.2020, W258 2217446-1/15E zu "Parteienaffinität"), in denen der Grundsatz der informationellen Selbstbestimmung überspannt wird, deuten in diese Richtung.

Der Hintergrund: Die Verarbeitung "sensibler Daten", also Daten, aus denen etwa die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen hervorgehen, ist verboten, außer die betroffene Person hat in die Verarbeitung ausdrücklich eingewilligt. Strittig ist allerdings, ob eine Information, die einer Person mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit solche Werte zuordnet, bereits als "sensibles Datum" zu qualifizieren ist.

Der verfolgte Adressenverlag berechnete, mit welcher Wahrscheinlichkeit Personen mit bestimmten soziodemografischen und regionalen Eigenschaften für bestimmte politische Parteien und aufgrund ihres Selbstverständnisses ("traditionell, postmateriell, digital-individuell, bürgerlich, hedonistisch") für bestimmte Werbetreibende von Interesse sind.

Die DSB und das BVerwG mussten sich mit der Frage auseinandersetzen, ob hochgerechnete Wahrscheinlichkeitswerte bezüglich der "Parteiaffinität" als politische Meinung oder umgelegte Wahrscheinlichkeitswerte zu "Sinus-Geo-Milieus®" als weltanschauliche Überzeugungen zu qualifizieren sind.

Was ist herleitbar?

Beide bejahten diese Frage. Diese strenge Grenzziehung ist weder durch den Gesetzeswortlaut gedeckt noch im (Verwaltungs-)Strafrecht dogmatisch begründbar und schon gar nicht sachgerecht: Lassen statistisch ermittelte bzw. hochgerechnete und dann Adressen zugeordnete Werbeinteressen wirklich darauf schließen, ob die Person die Meinungen einer bestimmten politischen Partei vertritt?

Reicht ein solcher Wahrscheinlichkeitsschluss tatsächlich für die Qualifikation als weltanschauliche Überzeugung? Werden durch Namen, wie etwa "Franz Schmidt", mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die rassische und ethnische Herkunft oder aus Fotos – mit oder ohne Brille – Gesundheitsdaten herleitbar? Geht aus dem Kauf eines Buchs zum Thema "Selbsthilfe bei Depression" bereits der wahrscheinliche Gesundheitszustand des Käufers hervor?

Diese Logik führt zu absurden Ergebnissen, etwa dass ein Buchhändler seine Buchhaltung nur noch mit ausdrücklicher Einwilligung der Käufer "sensibler Bücher" führen dürfte. Gleiches gilt schon für jegliche Namensliste.

In der Praxis undurchführbar

Tatsächlich definiert das Datenschutzrecht aber klar, dass die sensible Dimension aus den Daten hervorgehen muss, also direkt und eben nicht nur mit hinreichender Wahrscheinlichkeit. Ansonsten würde faktisch alle Datenverarbeitung – jedenfalls über die wahrscheinliche ethnische Herkunft aufgrund des Namens – ausschließlich mit informierter und widerruflicher Einwilligung der Betroffenen zulässig. Das ist in der Praxis undurchführbar; dass sich die US-Internetgiganten an solche Regelungen halten würden, ist außerdem illusionär.

Selbst wenn eine solche strenge Grenzziehung in dem einen oder anderen Beschwerdefall eine Schutzfunktion erfüllt, müssen sich die Entscheidungsträger der Gefahr bewusst sein, dass uneinhaltbare Regelungen ihre soziale Akzeptanz verlieren. Außerdem würde der Eindruck entstehen, dass das Datenschutzrecht ausschließlich als Wettbewerbsnachteil für EU-Unternehmen gegenüber dem Rest der Welt statt als notwendiges Regelungssystem zur Gewährleistung einer lebenswerten Gesellschaft dient.

Schrems vs. Facebook

Manche Datenschutzentscheidungen können allerdings auch in die andere Richtung irren, etwa das erstgerichtliche Urteil des OLG Wien im aktuellen Zivilverfahren Schrems vs Facebook (30.6.2020, LGZ Wien 3 Cg 52/14k). Dabei geht es um die Frage, ob Facebook-Einladungen zu Veranstaltungen und Werbungen die sexuelle Orientierung des Users offenbaren.

Für das Gericht liegt hier ein Ausnahmegrund von dem Erfordernis einer ausdrücklichen Einwilligung vor, weil die Orientierung vom Betroffenen selbst öffentlich bekanntgemacht worden war. Dass dies in einem völlig anderen Zusammenhang geschehen ist, wurde vom Gericht ignoriert. (Max Mosing, 2.11.2020)