Im Gastkommentar widmet sich der Theologe und Ethiker Kurt Remele Donald Trumps treuesten Wählerinnen und Wählern.

Beten mit der Flagge – beim Konzert eines evangelikalen Sängers in der National Mall Ende Oktober in Washington.
Foto: AFP/Samuel Corum

Dem Journalisten und republikanischen Parteimitglied Michael Gerson zufolge belegen Donald Trumps privates und öffentliches Verhalten eindeutig, dass er die "seit Menschengedenken am wenigsten christliche Persönlichkeit darstellt, die das Präsidentenamt innehat". Doch sollte Trump am 3. November abermals zum Präsidenten gewählt werden, wird eine rechtslastige ökumenische Allianz von evangelikalen Protestanten und reaktionären Katholiken maßgeblichen Anteil daran haben.

Der US-Talkmaster Seth Meyers charakterisierte Trump wie folgt: "Lügen ist für ihn ebenso natürlich wie Atmen." Doch warum lügt Trump? Will er nicht anders, oder kann er nicht anders? Die Antwort der Psychiatrieprofessorinnen Judith Lewis Herman und Bandy Lee ist überraschend einfach. Sie lautet: beides. Im 2017 erschienenen Sammelband The Dangerous Case of Donald Trump stellen sie fest, dass ein Mensch "sowohl böse als auch mental beeinträchtigt" sein kann, und nennen dies "eine furchterregendere Vorstellung". Tritt diese Kombination nämlich bei einem hohen Politiker auf, könnten die Schmeichelei von Untergebenen und der Jubel von Menschenmengen dazu führen, dass sich seine Machtfantasien in Größenwahn verwandeln.

Ein kläglicher "Loser"

Wer meint, diese Diagnose und diese Prognose würden haargenau auf Trump zutreffen, liegt so falsch nicht. Bei einer Wahlveranstaltung in North Carolina im Oktober dieses Jahres bezeichnete sich Trump als die berühmteste und beliebteste Person der ganzen Welt, gestand aber gleichzeitig ein, dass es eine Ausnahme gebe: Jesus Christus. Dass der Präsident dem Sohn Gottes den Vortritt ließ, überrascht, denn immerhin war der historische Jesus ein kläglicher "Loser", der von stärkeren Gegnern qualvoll hingerichtet wurde. Lügt Trump wieder einmal, wenn er sich freiwillig hinter Jesus einreiht? Gut möglich, doch Trumps devote Geste gegenüber Jesus ist wohl eher der Tatsache geschuldet, dass er sich vor den Angehörigen der Christian Right wieder einmal als gottesfürchtiger Präsident inszenieren wollte. Die als christliche Rechte bezeichnete rechtslastige Allianz von evangelikalen Protestanten, reaktionären Katholiken und vielleicht auch – falls man sie als Christen durchgehen lässt – den meisten Mormonen gehört nämlich zu Trumps treuesten Wählerinnen und Wählern.

Das Verhältnis zwischen evangelikalen Protestanten, für die jedes Wort der Bibel eine überzeitliche göttliche Wahrheit darstellt, und rechtskonservativen Katholiken, die sehnsüchtig auf die liturgische Pracht und die kirchliche Macht alter Zeiten schielen, war lange von gegenseitigem Misstrauen geprägt. In den 1980er-Jahren entdeckten beide Gruppen jedoch, dass sie zahlreiche gesellschaftliche Anliegen teilten. Sie entwickelten sich zu strategischen Partnern im politischen Kampf gegen Homosexuelle und Feministinnen, staatliche Wohlfahrtsprogramme und atomare Abrüstung. Sie traten gemeinsam gegen die Abschaffung der Todesstrafe und die Einschränkung des Waffentragens, gegen Sterbehilfe und die Straffreiheit von Abtreibung auf. Vor allem letzteres Anliegen eint rechtskonservative Christinnen und Christen aller Denominationen. Damit verkürzen sie einen umfassenden, konsistenten Schutz des Lebens auf eine "embryozentrische" Moral, die ausblendet, dass Leben und Sterben auch nach der Geburt weitergehen und dass ein komplexes Phänomen wie Abtreibung andere Umgangsformen erfordert als den despektierlichen und bedrohlichen Schlachtruf "Lock her up!".

Voneinander gelernt

In ihrem gemeinsamen Kampf haben die konfessionsverschiedenen Rechten manches voneinander gelernt. Einige Katholiken übernahmen sogar obskure Praktiken der Pfingstbewegung wie das euphorische Lallen von Nonsenssilben ("Glossolalie") und durch ekstatische Gebete erwirkte Krankenheilungen. Bei beidem handelt es sich um psychopathologisch oder sozialpsychologisch zu erklärende Phänomene, die zu Gaben des Heiligen Geistes umgedeutet werden.

Hochburgen der katholischen Charismatiker waren die Universitäten Duquesne bei Pittsburgh und Notre Dame nahe South Bend im Bundesstaat Indiana. In South Bend lernte auch Amy Coney Barrett, die auf Geheiß Trumps soeben zur Höchstrichterin am Supreme Court ernannt wurde, die katholische Pfingstbewegung kennen. Barrett schloss sich einer charismatischen Laien- oder Bundesgemeinschaft namens "People of Praise" an, in der geistbewegte Christinnen und Christen, Ehepaare mit Kindern ebenso wie Singles, in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander leben, sich gegenseitig unterstützen und regelmäßig zum Gebet treffen.

Autoritäre Gemeinschaft

Die Anschuldigung, charismatische Bundesgemeinschaften zeichneten sich durch mangelnde Transparenz und autoritäre Strukturen aus, ist nicht von der Hand zu weisen. Im Jahre 1992 ordnete Albert Ottenweller, der damalige Diözesanbischof von Steubenville in Ohio, eine Visitation einer solchen Bundesgemeinschaft, die ins Gerede gekommen war, an. In seinem Schlussbericht stellte Ottenweller fest: "Ich war erschüttert über das Ausmaß, in welchem das Leben der Mitglieder durch ihre Leitungspersonen kontrolliert wird." Er bedauerte "den Schaden, den ein irregeleiteter pastoraler Dienst anrichten kann".

Nun hat Barrett selbst die Macht, das Leben anderer Menschen zu kontrollieren. Es ist zu hoffen, dass sie damit zurückhaltender und achtsamer umgeht, als das in charismatischen Gemeinschaften der Fall zu sein scheint. Die Tatsache, dass sie sich gegen jeden politischen Anstand von einem Mann wie Trump so kurz vor einer Präsidentschaftswahl für dessen Ziele instrumentalisieren ließ, lässt daran zweifeln. Der Geist Trumps wirkt in Barrett offenbar stärker als der Geist Gottes: Trumps Revanche dafür, dass Jesus populärer ist als er? (Kurt Remele, 2.11.2020)