Tabea Zimmermann bei Enno Poppes Filz zelebrierte:

Marco Borggreve

Mit einer gewissen Vorahnung, dass das Eröffnungskonzert von Wien Modern auch schon das Ende der Reihe einläuten würde, sprach Festivalleiter Bernhard Günther mahnend: "Eine Gesellschaft, die Kultur für momentan mal kurz entbehrlich hält und für etwas, auf das man jetzt aber wirklich keine besondere Rücksicht nehmen kann, verändert sich schneller als gedacht in eine andere, die am Ende niemand gewollt haben wird..."

Nach Günthers Konzertpräludium zeigte sich, dass schon die bisherigen Corona-Regeln auch die Musik verändern können: Tuning Meditation von Pauline Oliveros hätte an sich ein mitagierendes Publikum ermöglicht. Die Anweisung "Spiele zuerst einen Ton, den du in deiner Fantasie hörst. Dann höre auf den Ton von jemand anderem und stimme dich so genau wie möglich auf diesen ein ..." umzusetzen, blieb im Wiener Konzerthaus allerdings nur dem RSO-Wien vorbehalten.

Meditative Einstimmung

Summende Maskierte schienen den Behördenauflagen wohl zu gefährlich. Es ergaben sich somit nur instrumentale Schichtungen, die zwischen harmonischer Aufhellung und Verdüsterung changierten. Eine meditative Einstimmung auf die expressive Bratschengestik, die Tabea Zimmermann bei Enno Poppes Filz zelebrierte: Eine tendenziell mit deftigen Glissandi arbeitende Linearität taucht unter der effektiven Leitung von Dirigent Leo Hussain "singend" ab im RSO-Klang, um energisch wieder aufzutauchen.

Zimmermann legt alle Energie in die vielschichtige Ausformung einzelner Passagen, als ginge es darum, tatsächlich die letzten Töne (für lange Zeit) zu spielen. Corona-beeinflusst auch Hugues Dufourts Les deux saules d’après Monet: Während des ersten Lockdowns in Straßburg geschrieben, bot es dem RSO-Wien die Möglichkeit, Exaktheit und Klangsensitivität zu vereinen. Ebendiese Einladung "sprach" auch Germán Toro Pérez’ vielschichtige Neuheit Trazos II aus.

Late-Night-Konzert

Dass Wien Modern zuvor im Stephansdom quasi begonnen hatte, schien bedauerlicherweise sehr stimmig. Nicht nur der gläubige Freund zeitgenössischer Klänge ertappte sich beim inneren Hoffnungsgebet, die ersten Konzerte des Festivals mögen nicht die letzten werden. Beim Late-Night-Konzert (ab 21.45) wusste ja noch keiner, wie schlimm es mit dem Lockdown kommen sollte.

Die Klangereignisse weckten natürlich aus der Andachtspose, Heinz Holligers Ostinato funebre (aus dem Scardanelli-Zyklus) fesselt durch delikate Diktion. Das Stück, vom Klangforum Wien unter Sylvain Cambreling subtil umgesetzt, wirkte wie das Porträt eines unruhig Schlafenden – als würde dessen Atemrhythmus zur musikalischen Geste.

Francesco Filideis Ballata no.1 für Orgel, Ensemble und Elektronik gab sich ebenfalls der filigranen Atmosphäre hin. Es liefert aber letztlich auch imposante maschinelle Prozesse samt finaler Beschleunigung. Spektakulär – wie Olivier Messiaens orchestrale Gedanken zu den Opfern der Weltkriege: "Et expecto resurrectionem mortuorum" erreicht seine Wirkung mitunter ebenfalls expressiv.

Radio und Streaming

Da sind jedoch auch breite Flächen, Repetition und heftige Konfrontationen von Blech und Schlagwerk. Sie ergeben in Summe eine imposante Kathedrale. Als Kontrast fungierten Klaus Langs klangsensitives "weißbärtig.mond" für Orgel (Iveta Apkalna) und zwei Horndialoge von Gérard Grisey, die Christoph Walder und Julia Pesendorfer umsetzten.

Schade, dass es ab Dienstag vorbei ist. Wobei: Wien Modern prüft die Möglichkeit, durch Radio- und Streamingangebote und vielleicht doch umsetzbare Formate, Teile des Programms zu retten. In einem Baumarkt, in einer Kirche? (Ljubiša Tošic, 2.11.2020)