Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hat am Montag die Verhängung des Lockdowns verteidigt – einen solchen hatte er ja bis vor kurzem noch als kaum vorstellbar bezeichnet. Er erklärt seine aktuelle Sicht auf die Dinge mit Zahlen: Bis zum 20. Oktober hätten die Prognosen gehalten, "dann sind die Daten plötzlich explodiert", sagt Anschober – und zwar nicht nur in Österreich, sondern in fast ganz Europa.
Für die Tage nach dem 20. Oktober seien in Österreich rund 2.200 neue Infektionsfälle prognostiziert worden – es waren dann teilweise deutlich über 3.000. Der bisherige Höhepunkt wurde am 30. Oktober verzeichnet – mit 5.340 positiven Neutestungen. Hinzu kommt: Eine Steigerung der Hospitalisierungsrate ist immer erst rund eine Woche nach einer Vielzahl an Neuinfektionen zu erkennen – schon jetzt befinden sich deutlich mehr Patienten wegen Corona im Spital als auf dem Höhepunkt im Frühjahr.
"Grundmaßnahme": Kontaktreduktion
"Wenn wir den Trend nicht brechen, haben wir Mitte bis Ende November massive Probleme auf den Intensivstationen", sagt Anschober. Auch Triagen – also eine medizinische Entscheidung darüber, wer intensivmedizinisch behandelt werden kann und wer nicht – könnten dann nicht ausgeschlossen werden. "Die Herausforderung ist größer als im Frühjahr", ist der Gesundheitsminister überzeugt. Dagegen helfe vor allem "die eine Grundmaßnahme": Kontaktreduktion.
Auch der Infektiologe Herwig Kollaritsch, der auch der Corona-Taskforce von Anschober angehört, appelliert an die Bevölkerung, die Sozialkontakte "drastisch einzuschränken". In der nunmehrigen epidemiologischen Lage gehe es darum, die effektive Reproduktionszahl – ein Infizierter steckt derzeit im Durchschnitt 1,4 Personen an – deutlich zu senken.
Impfung kein Wunderding
Kollaritsch veranschaulicht das mit konkreten Beispielen. Bei einer effektiven Reproduktionszahl von 0,9 reduzieren sich die Neuinfektionen binnen drei Monaten um 90, binnen sechs Monaten um 99 Prozent. Gelänge es, die effektive Reproduktionszahl auf 0,5 zu drücken, wäre eine Senkung der Neuinfektionen um 90 Prozent schon binnen zwei Wochen, eine Reduktion um 99 Prozent innerhalb von vier Wochen drinnen, erläutert der Experte.
Von einem Impfstoff könne man sich keine Wunderdinge erwarten, dämpft Kollaritsch die Hoffnung, ein solcher könnte die Pandemie zügig beenden. Wichtig sei es daher, "auf Monate, vielleicht viele Monate" die Schutzmaßnahmen – das Tragen von Mund-Nasen-Schutz, das Beachten des Mindestabstands zum Nächsten und das Reduzieren von Sozialkontakten – beizubehalten. Das sei so lange ein Muss, "bis wir sagen können: Brand aus", betont der Infektiologe.
Nicht jeder Patient erhält Behandlung wie normal
Klaus Markstaller, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin, gibt bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Anschober darüber hinaus zu bedenken: "Die Ressourcen sind endlich" – also jene in den Spitälern. Man werde in der Lage sein, "den sich jetzt abzeichnenden Peak ohne Triage" zu bewältigen, ist er überzeugt. Aber die "dynamische Entwicklung" des aktuellen Infektionsgeschehens müsse unbedingt eingedämmt werden.
Der Gesundheitsminister bekräftigt angesichts der jüngsten Zahlen und der Prognosen die Notwendigkeit einer "großen Notbremse". "Es wird Situationen geben, wo nicht jeder Patient die Behandlung bekommen wird, die in normalen Zeiten gewährleistet ist", sagt Anschober. In den Spitälern werde es in dieser Hinsicht aber vorerst "keine Problematik" geben. Die Versorgung aller Patienten sei garantiert. (Katharina Mittelstaedt, APA, 2.11.2020)