Leere Sessel: Bis sie wieder gefüllt sind, wird es noch etwas dauern.

Foto: Imago/Frank Sorge

Einige Stunden bevor Deutschland in den Lockdown ging, veranstaltete das Hamburger Thalia Theater am Sonntag einen "Gottesdienst der Künste". Theatermenschen und Geistliche führten gemeinsam durch ein Programm, das auf die symbolische Kraft hinweisen wollte, die Theater genauso wie Kirchen eigen ist: Wer diese schließt, der verhindert, dass Menschen in schwierigen Zeiten Zuversicht und Freude erfahren.

Mittlerweile sind die Theater sowohl in Deutschland als auch in Österreich zu – und mit ihnen alle Opern- und Konzerthäuser, Kinos und Museen. Was vor kurzem noch undenkbar schien, ist in beinahe ganz Europa eingetreten: Die Kultur wurde auf null gestellt – und das, obwohl es in ihrem Bereich zu keinen nachgewiesenen Ansteckungsfällen gekommen ist. Der Musterschüler muss etwas ausbaden, das nicht er verschuldet hat.

Das ist für Kulturschaffende genau so bitter wie für Kulturkonsumenten. In den vergangenen Monaten haben Kulturveranstalter gezeigt, wie genau sie Hygienevorschriften und Sicherheitsbestimmungen – durchaus auch im eigenen Interesse – nehmen: Jeder wusste, dass Clusterbildungen die sofortige Schließung von Theatern oder Kinos zur Folge hätten. Diese haben sich aber nicht gebildet. Mit einiger Gewissheit konnte und kann man also davon ausgehen, dass kulturelle Einrichtungen sicher sind.

Mehr als Freizeitgestaltung

Dass sie dennoch geschlossen wurden, ist kaum zu verstehen, aber hat damit zu tun, dass sie pauschal einem Bereich zugeordnet wurden, der als "Freizeit" etikettiert wird. Das hat zu Recht viele verstimmt. Dass man Kultur in den meisten Fällen in der eigenen Freizeit konsumiert, unterschlägt, dass Kultur im Idealfall viel mehr sein kann als bloße Freizeitgestaltung. Oder wie es im Hamburger Thalia Theater geheißen hat: "Religion und Kultur sind beide Überlebenstechniken."

Diese sind in der derzeitigen Situation wichtig wie schon lange nicht mehr. Während Kirchen weiterhin offenbleiben und Kulturmenschen gut daran täten, sich darüber zu freuen, statt sich darüber zu mokieren, ist es um so verstörender, dass die Regierung nicht einmal den Versuch unternommen hat, die Wichtigkeit von Kultur zu unterstreichen.

Mit dem Offenhalten der Museen hätte sie die Chance dazu gehabt. Nicht nur, dass in jedem Einkaufszentrum die potenzielle Ansteckungsgefahr größer ist, Museen hätte die Rolle zukommen können, ein (zumindest symbolisches) Gegengewicht zu dem auf Konsum ausgerichteten Handel zu sein. Genauso wie wir Letzteren brauchen, benötigen wir auch Räume des Innehaltens und der ästhetischen Kontemplation. Auch und besonders in den kommenden Wochen. (Stephan Hilpold, 2.11.2020)