Bild nicht mehr verfügbar.

Neandertalerkinder entwickelten sich ähnlich schnell wie die Nachkommen des anatomisch modernen Menschen.
Foto: REUTERS/Nikola Solic

Vor rund 30.000 Jahren verschwand der Neandertaler vom Angesicht der Erde. Was letztlich zum Aussterben unseres nahen Verwandten geführt hat, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Theorien gibt es freilich viele. So hat man unter anderem angenommen, dass die wachsende Konkurrenz durch Homo sapiens beim Neandertaler zu einem fatalen Populationsrückgang geführt hatte.

Doch weder fanden sich bisher Anzeichen für kriegerische Handlungen während der rund 4.000 Jahren, die Mensch und Neandertaler gemeinsam in Europa koexistierten. Noch lässt sich überhaupt ein ausgesprochen rascher Übergang der Besiedelung Europas von Homo neanderthalensis zum anatomisch modernen Menschen nachweisen. Auch Klimaschwankungen dürften nicht ausschlaggebend für ihr Verschwinden gewesen sein. Heute neigt man zu der These, dass ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren dem Neandertaler den Garaus gemacht hat, wobei demografisches Pech eine bedeutende Rolle gespielt haben könnte.

Langes Stillen als Problem?

Ein anderer Grund für das Ende der Neandertaler wurde von einigen früheren Studien im Umgang dieser Menschenart mit ihren Säuglingen und deren Entwicklungsgeschwindigkeit vermutet: Neandertalermütter – so die Annahme – stillten ihre Kinder vergleichsweise lange, sodass diese nicht früh genug vielfältige Nährstoffe für eine Höherentwicklung des Gehirns erhielten; außerdem seien dadurch die Geburten zeitlich weiter auseinander gelegen als beim Menschen.

Diese Hypothese hat ein internationales Forscherteam nun anhand von vier Neandertaler-Milchzähne weitgehend widerlegt. Die Wissenschafter haben die Zähne auf die Elemente Strontium und Calcium hin untersucht, die auch noch nach 70.000 Jahren zuverlässig Auskunft über die Ernährung der Kinder geben. Das Ergebnis: Die Mütter begannen, wie heute beim Menschen üblich, ihre Kinder nach fünf bis sechs Monaten allmählich abzustillen. Das Stillverhalten und die damit zusammenhängenden Geburtsintervalle spielten also keine Rolle für das Aussterben der Neandertaler.

In dünne Scheiben geschnittene Milchzähne verraten viel über die Stillzeit der Neandertaler.
Foto: Stefano Benazzi

Scheibchenweise Zahnuntersuchung

Die Milchzähne, die vier Kinder vor 40.000 bis 70.000 Jahren beim Zahnwechsel verloren hatten, stammen aus Höhlen in Nordostitalien. Die Wissenschafter um Wolfgang Müller vom Institut für Geowissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main untersuchten sie unter anderem mit chemischen Methoden: "Wir betteten die Zähne in Harz ein und schnitten sie dann in hauchdünne Schichten – ein für solch seltene Funde äußerst ungewöhnliches Vorgehen, zumal wir die kostbaren Proben hinterher wieder zusammensetzen mussten", erklärte Müller. Jede dieser Lagen ist höchstens 150 Mikrometer dünn, das entspricht etwa der Dicke von zwei Blatt Papier.

Anschließend trug ein spezieller Laser das Zahnmaterial ab. Dieses Material untersuchte Müllers Arbeitsgruppe mit moderner Massenspektrometrie auf den Gehalt der natürlichen Elemente Strontium und Kalzium: "Beides ist in Zähnen und Knochen enthalten", sagt Müller, "aber Strontium als natürliche Unreinheit von Kalzium scheidet der Körper nach und nach aus, sodass uns das Verhältnis von Strontium zu Kalzium (Sr/Ca) Hinweise auf die Nahrung gibt". Bei Muttermilch ist dieses Verhältnis anders als etwa bei Körnern, Gemüse, Fleisch oder tierischer Milch.

Die Isotopenverteilung im Zahnschmelz gibt wie bei Baumringen Auskunft über die Entwicklung der Kinder.
Foto: Alessia Nava

Tägliche Wachstumsringe

Das Faszinierende: Jeden Tag lagert sich eine messbare Schicht Zahnschmelz ab, sodass jeder Zahn wie die Wachstumsringe eines Baums die Lebenstage widerspiegelt. Schon in der Zahnanlage im Ungeborenen zeigt eine klare Linie den Tag der Geburt an, die "Neonatallinie". Jeder weitere Lebenstag bei gestillten Kindern ist geprägt von der Kalzium-reichen, Strontium-ärmeren Muttermilch – oder eben mit dem Beginn des Abstillens von höheren Konzentrationen an Strontium. Dank ihrer feinaufgelösten Methoden konnten die Arbeitsgruppen diesen Zeitpunkt anhand der Milchzähne sehr genau auf 3,8 bis 5,3 Monate – je nach Individuum – datieren.

Ein Vergleich mit in den jeweiligen Höhlen gefundenen Nagetierzähnen zeigt zudem, wie lange die Kinder oder ihre Mütter in dieser Umgebung lebten. "Das Strontium-Isotopen-Verhältnis (87Sr/86Sr) liefert uns Informationen über das Gestein und den Boden der Umgebung, in der die Menschen und Nagetiere lebten", so Müller. Die Zähne erzählen damit Lebensgeschichten: So verbrachte eine der Mütter das Ende der Schwangerschaft sowie die ersten 25 Tage nach Geburt nicht am Fundort, denn die Isotopenzusammensetzung des Milchzahns berichtet von einer anderen Umgebung.

Ortstreue Neandertaler

Diese Mutter und ihr Kind zählen zu den modernen Menschen des Paläolithikums (40.000 Jahre) und unterscheiden sich deutlich von den früheren Neanderthalern (50.000 Jahre) aus derselben Höhle: Der jüngere Zahn weist – verglichen mit einem Neanderthaler-Zahn vom selben Fundort – auf unterschiedliche Nahrung und größere Migration in einem kälteren Klima hin. Alle drei Neanderthaler-Mütter und -Kinder lebten hingegen die ganze Zeit in derselben Region, waren also anders als bisher vermutet, sehr ortstreu.

Die im Fachjournal "Pnas" veröffentlichten Erkenntnisse des Forschungsteams aus Anthropologen, Archäologen, Chemikern, Physikern und Geologen aus den untersuchten vier Milchzähnen weisen darauf hin, dass spätes Abstillen nicht für das Aussterben der Neanderthaler verantwortlich ist. Die täglich angelagerten Zahnschmelzschichten ähneln chemisch jener heutiger Babys – ein Hinweis darauf, dass die Ernährung und Entwicklung erstaunlich ähnlich verliefen. (red, 8.11.2020)