In der Nacht auf Dienstag wurde die Wiener Innenstadt Ziel eines Terroranschlags.

Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Ewald Lochner rät allen, über den Terroranschlag mit Bekannten und Freunden zu sprechen. Sollte das nicht ausreichen, soll man sich professionelle Hilfe suchen.

Foto: APA

STANDARD: Derzeit treffen die österreichische Bevölkerung zwei Krisen auf einmal: Kurz bevor am Dienstag der zweite Lockdown in Kraft getreten ist, kam es zu einem Terroranschlag in der Wiener Innenstadt. Was macht diese Doppelbelastung mit den Menschen?

Lochner: Ein Terroranschlag ist immer etwas, das zur Gänze unfassbar ist. Wenn man schon in der Zeit davor eine nicht unerhebliche psychische Belastung erlebt hat, wie wir das aktuell durch die Corona-Krise seit Monaten erfahren – ist das natürlich eine noch stärkere Belastung. Letztlich bleibt aus diesem Anschlag übrig, dass es etwas Unfassbares ist, das unser Geist nicht fassen kann. Das macht uns in erster Linie Angst. Wichtig ist dann, dass wir daraus etwas Fassbares machen. Dabei helfen klare und vor allem richtige Informationen, die nicht im Nachhinein wieder widerrufen werden. Das ist der erste Schritt, damit man die Angst einordnen kann. Der zweite Schritt ist, dass man darüber viel spricht – sei es in der Familie oder im Freundeskreis. Darüber zu sprechen führt dazu, dass man die Angst verarbeitet.

STANDARD: Was kann man tun, wenn man im Lockdown jetzt allein zu Hause und verängstigt ist?

Lochner: Bei der Corona-Sorgenhotline Wien unter 4000 53000 anrufen und genau darüber reden. Genau dafür haben wir das eingerichtet: Wenn ich kein soziales Umfeld habe, dann kann ich dort anrufen, es ist eine Hotline, bei der es darum geht, dass den Menschen auch direkt dort geholfen wird. In der Nacht auf Dienstag wurde bei zwei Dritteln der Fälle den Menschen dort direkt durch Entlastungsgespräche geholfen.

STANDARD: Mit wem kann man sonst sprechen?

Lochner: Die Frage ist, ob es ausreicht, mit Bekannten zu sprechen. Wenn das nicht der Fall ist, dann muss ich mir professionelle Hilfe suchen. In der Stadt Wien bieten wir Hilfe auf unterschiedlichen Ebenen an. Für diejenigen, die wirklich beim Geschehen dabei waren, gibt es die Akutbetreuung Wien. Für alle anderen haben wir als Psychosoziale Dienste in Wien den Psychosozialen Notdienst massiv ausgebaut über Nacht. 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche kann dort angerufen werden.

Zudem haben wir noch in der Nacht die Corona-Sorgen-Hotline aufgestockt, damit wirklich jeder anrufen kann und die Hilfe bekommt, die er oder sie braucht. Und es gibt das Kriseninterventionszentrum in Wien, hier kann man anrufen, wenn man tatsächlich schon in einer Krise steckt. Das sind Instrumente, die uns helfen können, mit unserer Angst umzugehen, die wir nutzen sollen. Wir wissen, dass Männer es als schwieriger empfinden, ihre Angst zu artikulieren und damit umzugehen. Darum der klare Appell auch an Männer, das in Anspruch zu nehmen.

STANDARD: Gerade in sozialen Medien – aber auch in traditionellen – wurden in der Nacht auf Dienstag viele Gerüchte und Videos verbreitet, die Polizei hat immer wieder dazu aufgerufen, sich zurückzuhalten. Wieso halten sich viele nicht daran, sondern verbreiten Spekulationen?

Lochner: Das hat unterschiedliche Gründe. Ich möchte das in zwei große Blöcke einteilen: Das eine ist Sensationsgier. Wir sind als Menschen sehr neugierig, das heißt, wir haben großes Interesse an neuen Dingen. Das andere ist: Solche Situationen machen uns Angst. Darum versuchen wir, Teil von dem Ganzen zu sein. Wenn wir permanent Informationen teilen, vermittelt das das Gefühl, dabei zu sein und Teil davon zu sein. Das vermittelt wiederum das Gefühl, etwas ein wenig steuern und beherrschen zu können.

Klar ist, es hilft nicht, dass über unterschiedliche Medien – egal ob Print- und Fernsehmedien oder soziale Medien – ständig Informationen und Falschinformationen reproduziert werden, das trägt zur Verunsicherung und zur Angst der Bevölkerung bei. Es ist wichtig, dass klar und richtig kommuniziert wird.

STANDARD: Im Web kursieren diverse Videos, die den Anschlag zeigen. Viele in der Bevölkerung haben diese gesehen. Warum schauen wir uns diese Videos an, und was löst das in den Betrachtern aus?

Lochner: Warum wir solche Videos anschauen, ist ganz einfach: Das liegt daran, dass wir wissen wollen, was los ist, und informiert sein wollen. Aber: Bewegte Bilder machen uns selbst zum Teil des Geschehens, als würden wir das miterleben. Natürlich nicht in der Intensität ist, als wären wir tatsächlich selbst vor Ort dabei gewesen. Solche Bilder können auch sogenannte posttraumatische Belastungsstörungen hinterlassen. Darum ist es wichtig, dass wir, wenn wir Angst oder ein ungutes Gefühl haben – viele können die Angst ja gar nicht so benennen –, darüber sprechen.

Es gilt als Gesellschaft in erster Linie, zu verhindern, dass die Angst, die Menschen haben, in Wut und dann in Hass übergeht. Man muss die Angst bearbeiten. Ein weiteres Mittel, gegen diese Angst vorzugehen, ist, sich in einer Gemeinschaft zu fühlen. Auch das mindert das individuelle Angstgefühl. Denn wenn Angst zu Hass wird, hat Terror sein Ziel erreicht. Das dürfen wir als Gesellschaft nicht zulassen.

STANDARD: Manchmal ist man sich seiner Angst doch gar nicht bewusst. Auf welche Art kann sich diese zeigen?

Lochner: Wenn ich in den nächsten Tagen außer Haus gehe und dabei immer ein ungutes Gefühl habe oder nicht zu den Fenstern gehen will. Oder: Wenn ich in dem Moment, wenn ich den Fernseher aufdrehe oder mein Handy in die Hand nehme, ständig Meldungen sehe und dabei ein unangenehmes Gefühl in meinem Bauch spüre, ist das ein klares Indiz dafür, dass ich etwas aufarbeiten muss und mit jemandem darüber sprechen sollte.

STANDARD: Was kann man selbst tun, um sich wieder sicher zu fühlen?

Lochner: Sich bewusst werden: Habe ich diese Gefühle oder nicht? Ich kann darüber reflektieren. Wenn ich solche Gefühle habe, kann ich etwa meinen Medienkonsum etwas einschränken. Den Fernseher abdrehen, das Handy weglegen. Ich kann das Fenster aufmachen und einmal tief durchatmen. Dann kann ich den Versuch unternehmen, meinen Geist mit etwas anderem zu beschäftigen. Das sind die ersten Schritte – wenn das nichts nutzt, dann ist das ein klares Indiz dafür, dass ich Hilfe brauche. Dann sollte ich bei der Hotline anrufen.

STANDARD: Was macht so ein Anschlag mit der Gesellschaft bzw. dem Selbstverständnis der Wiener?

Lochner: Wir können das selbst entscheiden. Nicht ob wir Angst empfinden oder nicht – aber wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Es wird als Gesellschaft in den nächsten Wochen und Monaten unsere Aufgabe sein, zu verhindern, dass das, was wir erlebt haben, in etwas umschlägt, das uns selbst noch mehr schadet. Hass ist zwar gegen etwas oder gegen jemanden gerichtet, schaden tut er aber immer allen in der Gesellschaft – auch denjenigen, die Hass empfinden.

Wir dürfen uns durch diesen Terror nicht spalten lassen. Wir müssen weiter zu- und miteinander stehen und für eine plurale Gesellschaft kämpfen. Das können wir nur, wenn wir mit unseren Ängsten umgehen können. Menschen haben Angst, das ist natürlich. Wichtig ist, dass man mit seiner Angst und den Gefühlen umgehen kann. Es bringt nichts, die Angst zu leugnen. Sonst kann es zu weiteren Problemen führen.

STANDARD: Was sollte man beachten, wenn man mit Kindern und Jugendlichen über den Terrorakt spricht?

Lochner: Entscheidend ist, dass man weiß, dass Kinder und Jugendliche es noch viel schwerer als Erwachsene haben, mit dem Unfassbaren umzugehen. Bei ihnen entstehen viel schneller Fantasien, die Angst machen. Man muss als Eltern oder Betreuungspersonen ganz klar und ruhig darüber reden, was passiert ist. Man muss auch die Ängste und Gefühle der Kinder und Jugendlichen zulassen. Als Erwachsener muss ich, wenn ich etwas nicht beantworten kann, das auch zugeben. Sagen: "Ich weiß das noch nicht, das wird sich erst entwickeln." Das gibt zwar keine Sicherheit, aber führt dazu, dass kein falsches Bild entsteht.

STANDARD: Gibt es auch spezielle Hilfen für Kinder und Jugendliche?

Lochner: Auch die Eltern und Kinder können Hilfe in Anspruch nehmen. Einerseits bietet die Kinder- und Jugendhilfe in Wien eine Hotline an, aber man kann auch bei allen anderen Hotlines anrufen. Es gilt, den Kindern und Jugendlichen bei der Verarbeitung zu helfen, damit daraus keine Wut und kein Hass wird, denn das ist der Nährboden für alles, was unsere Gesellschaft spaltet. (Oona Kroisleitner, 3.11.2020)