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In vielen Städten Brasiliens demonstrierten vor einigen Wochen Menschen gegen Gewalt, Rassismus und strukturelle Ungerechtigkeiten. Sie verlangen einen Rücktritt von Präsident Jair Bolsonaro.

Foto: REUTERS/Adriano Machado

Wer in Brasilien ein öffentliches Gebäude oder ein größeres Wohnhaus betritt, wird mit einer Plakette neben dem Lift konfrontiert. "Diskriminierung oder Vorurteile aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Ethnie und Religion stehen unter Strafe", wird aus dem Gesetz Nummer 7716 aus dem Jahr 1989 zitiert.

Doch wie so oft ist die Realität in Brasilien eine ganz andere – und eine widersprüchliche. So gibt es beispielsweise meist mehrere Aufzüge, einen für die Bewohner und einen separaten für die Hausangestellten. Auch haben viele Wohnungen unabhängig von ihrer Größe immer noch zwei Eingänge: einen in die Küche, den anderen in den Wohnbereich.

Brasilien ist das Land mit der größten sozialen Ungleichheit in Lateinamerika, und dies ist laut Experten einer der Gründe für den tief verankerten Rassismus in der Gesellschaft. Die Journalistin und Politikwissenschafterin Alexandra Loras geht sogar noch weiter. "Basilien ist das rassistischste Land, das ich kenne", sagt Loras, die einen afrikanischen Vater hat und in Frankreich aufgewachsen ist.

Noch keine Bewegungen

"Brasilien hat weltweit die größte Bevölkerung afrikanischer Nachfahren, das spiegelt sich aber nicht in der Gesellschaft wider." 56 Prozent der Brasilianer deklarieren sich selbst als schwarz oder dunkelhäutig. In den USA sind es 13 Prozent. Wie in den USA gibt es Polizeigewalt gegen Schwarze. Afrobrasilianer haben weniger gut bezahlte Jobs und gehen auf schlechtere Schulen. Dennoch gibt es keine breite Anti-Rassismus-Bewegung wie Black Lives Matter – noch nicht.

Anders als die USA gab es Brasilien nie eine Rassentrennung und auch keine traditionelle Bürgerrechtsbewegung. Jahrzehntelang zeichneten Brasilianer deshalb gern das Zerrbild einer bunten, exotischen und toleranten Nation. Erst während der Militärdiktatur in den Jahren 1964 bis 1985 formierte sich das erste "Black Movement".

"Es gibt im größten Teil der Gesellschaft kein Bewusstsein, dass es Rassismus gibt. Die Menschen blenden aus, dass Brasilien die am längsten andauernde Sklavenhaltergesellschaft der Welt gewesen ist", sagt Karen Macknow Lisboa, Historikerin an der Universität von São Paulo, USP.

Geringe Aufstiegschancen

Brasilien schaffte als letztes Land erst 1888 offiziell die Sklaverei ab. "Rassismus bedeutet, erniedrigt zu werden. Und Brasilien ist eine Gesellschaft, die hierarchisch stark gegliedert ist, mit sehr geringen Aufstiegschancen", sagt Macknow Lisboa.

Die Journalistin Loras berichtet, wie sie in edlen Shoppingcentern beäugt wurde. Niemand habe sie rausgeworfen, stellt sie klar. Allerdings sei offensichtlich, dass sich andere Besucher fragten, was eine Schwarze ohne weiße Begleitung denn dort wolle.

"Wenn ich mit meinem Sohn unterwegs bin, der eine helle Hautfarbe hat, denken viele, ich bin das Kindermädchen", sagt Loras. Auch wenn Brasilianer Rassismus von sich weisen, sind viele mit Vorurteilen behaftet. "Es gibt immer Rechtfertigung für rassistische Praktiken", sagt auch Macknow Lisboa.

Schweigen der Sportstars

Gleichzeitig fehlt es an schwarzen Vorbildern. Anders als in den USA, wo sich Stars wie die NBA-Legende Michael Jordan mit der Anti-Rassismus-Bewegung solidarisieren, bleiben Brasiliens Sportgrößen stumm. So hat beispielsweise der Weltfußballer Pelé nie seine afrobrasilianische Identität thematisiert. Als Brasiliens Stürmerstar Neymar gefragt wurde, ob er jemals Opfer von Rassismus war, antwortet er: "Niemals. Warum auch, ich bin ja nicht schwarz." Selbst der berühmte Karneval von Rio wird heute eher als folkloristischer Exportartikel beworben denn als kulturelles Erbe der Afrobrasilianer.

In der Politik sind Schwarze in Brasilien nicht nur unterrepräsentiert, sondern wie in der Regierung des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro gar nicht erst vertreten. Seine rassistische Hetze bleibt ohne Konsequenzen. Dunkelhäutige Jugendliche diffamiert er regelmäßig als Kriminelle. Im Kongress haben rund 95 Prozent der Abgeordneten eine weiße Hautfarbe.

Proteste gegen Gewalt

Armut hat auch in Brasilien eine Hautfarbe und ist oft tödlich. So wird alle 23 Minuten ein schwarzer Jugendlicher getötet. Fast 6.000 Menschen kamen im vergangenen Jahr durch Polizeigewalt ums Leben, 75 Prozent waren Afrobrasilianer. Douglas Belchior, Mitgründer der afrobrasilianischen Organisation Uneafro, spricht von einem Genozid.

Nach dem Tod George Floyds in Minneapolis ist es auch in Brasilien zu einem Aufschrei gegen Polizeigewalt gekommen. Zehntausende gingen in Rio de Janeiro und São Paulo auf die Straße. "Rassismus ist kein Problem der Schwarzen, sondern eines für die Demokratie", sagt Belchior. "Der Mord an George Floyd war wie der Auslöser dafür, dass weltweit Schwarze ihre Stimme erhoben haben", sagt er.

Belchior ist zuversichtlich. Denn bei Uneafro haben sich 150 afrobrasilianische Organisationen zusammengeschlossen. Unter dem Titel "Wo Rassismus ist, kann es keine Demokratie geben" haben sie ein Manifest verfasst. Es werde eine große Widerstandsbewegung geben, ist er sich sicher. (Susann Kreutzmann, 4.11.2020)