Was ist die angemessene Reaktion einer liberalen Gesellschaft auf den Terroranschlag in der Wiener Innenstadt vom Montagabend? Härtere Strafen und mehr Polizei? Und läuft innerhalb des Sicherheitsapparats alles richtig, wo sich nun herausgestellt hat, dass der Attentäter von Wien auf dem Radar der Behörden war – unter anderem, weil er in der Slowakei Munition kaufen wollte –, aber dennoch nichts unternommen wurde?

Diese Fragen standen im Zentrum einer neuen Ausgabe von "STANDARD mitreden" mit dem Kriminalsoziologen Reinhard Kreissl, dem Politikwissenschafter Thomas Schmidinger und der Sprachwissenschafterin Ruth Wodak.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hat ja kritisiert, dass der Attentäter im Dezember 2019 nach wenigen Monaten vorzeitig aus der Haft entlassen worden sei und das Deradikalisierungsprogramm erfolgreich habe täuschen können. Kriminalsoziologe Kreissl warnt in dem Zusammenhang vor übereilten Schlussfolgerungen: "Es ist völlig unplausibel, dass der Anschlag verhindert worden wäre, wenn der Täter die Haft ganz abgesessen hätte", sagt Kreissl. "Zahlreiche Studien zeigen, dass Resozialisierungsmaßnahmen erfolgreicher sind als Strafen." Dass in Einzelfällen Täter spektakulär rückfällig würden, ändere nichts daran.

Ein Gespräch zur Deradikalisierung

Politikwissenschafter Schmidinger präzisiert das: Er hatte 2016 inhaftierte Islamisten interviewt und im Rahmen einer Studie für das Justizministerium die Deradikalisierungsprogramme evaluiert. Analysiert hat er auch das Programm der NGO Derad, das auch der Attentäter von Wien absolviert hat.

Schmidinger ortet Verbesserungsbedarf: Einige der vorzeitig entlassenen Straftäter seien zu wenig betreut worden, kritisiert Schmidinger. Das Deradikalisierungsprogramm habe in diesen Fällen im Prinzip aus einem einzigen Gespräch bestanden. Während man zu jüngeren Straftätern durchdringen konnte, seien vor allem Ältere oft nicht erreicht worden. Er empfiehlt: Das System gehört evaluiert und verbessert. Was er bei der Studie gelernt hat? Finden Sie die Antworten im Video.

Hilft mehr Überwachung?

Kritisch sieht er Rufe nach mehr Überwachung – wenn, dann gehöre die Polizeiarbeit verbessert, etwa indem mehr arabisch- und tschetschenischsprachige Beamte eingestellt werden, die mit Informationen aus der Szene etwas anfangen können.

Kreissl sagt, dass zusätzliche Kompetenzen für die Polizei, etwa in puncto Überwachung, nicht helfen würden: Die Behörden hätten potenzielle Attentäter meist schon vor der Tat im Visier, das habe sich schon bei früheren Anschlägen in Paris und Brüssel gezeigt, sagt Kreissl. Das Problem sei, die Gefahrenlage richtig einzuschätzen und danach zu handeln. Viel Verbesserungspotenzial sieht er bei Sicherheitsbehörden, etwa wie mit Informationen aus dem Ausland umgegangen wird.

Genau richtig: "Schleich di"

Politikwissenschafterin Ruth Wodak analysiert die Sprache, mit der Politik und Gesellschaft auf den Anschlag reagiert haben. Welche Wirkung Sprache auf die Gesellschaft in einer solchen Situation haben kann und wie sie das Wording der Bundesregierung und des Bundespräsidenten bewertet: Sehen Sie die Antworten im Video. Außerdem vergleicht sie die Reaktion der österreichischen Politik auf den Anschlag mit der Reaktion auf Terrorakte in Neuseeland und Norwegen.

Sehen Sie außerdem: Kreissl erklärt, warum mehr Polizei auf der Straße nichts helfen würde gegen Terror, aber intensive Arbeit mit Gefährdern und Straftätern auf Bewährung sehr wohl. Ein Schlüssel bei der Kriminalitätsprävention sei Respekt. Warum? Kreissl erklärt es im Video. Schmidinger schildert, was die aktuelle Welle der terroristischen Gewalt von früheren unterscheidet. Sehen Sie außerdem, warum er den Ausruf eines Zeugen während des Attentats – "Du Oaschloch!" – in Richtung des Täters als politisch richtig einstuft. (Video: Ayham Yossef, Text: András Szigetvari, 4.11.2020)