Das Gericht hatte dem Wien-Attentäter gut sieben Monate Haft erspart: "Er bereue seine Taten, sei damals noch jung gewesen."

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Es war der erste Riss im beschworenen Zusammenhalt. Am Tag nach dem Terroranschlag in Wien drang aus der ÖVP Kritik, von der sich die unter grüner Führung stehende Justiz angesprochen fühlen darf. Der Attentäter habe das verhängte Deradikalisierungsprogramm ausgetrickst, um vorzeitig aus der wegen eines früheren Delikts verhängten Haft entlassen zu werden, sagte Innenminister Karl Nehammer und forderte eine "Optimierung" des angewendeten Systems. Kanzler Sebastian Kurz bezeichnete die Entlassung in einer Sonder-"ZiB" des ORF als "definitiv falsch": Ohne diesen Schritt "hätte der Terroranschlag so nicht stattfinden können".

Was ist an den Vorwürfen dran? Dem STANDARD liegt der richterliche Beschluss vor, der den Attentäter K. F. in die Freiheit entließ. Der Ablauf eröffnet einen differenzierteren Blick auf den Fall, als es die ÖVP getan hat.

Zur Chronologie: F. war im September 2018 in die Türkei gereist, um sich von dort aus den Kämpfern des "Islamischen Staats" (IS) in Syrien anzuschließen. Die türkischen Behörden verhafteten und überstellten den Teenager nach Österreich, wo er am 12. Juli 2019 wegen der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und kriminellen Organisation zu 22 Monaten Haft verurteilt wurde. Am 3. Oktober beschloss die zuständige Richterin in Krems, den ebendort einsitzenden F. mit 5. Dezember vorzeitig zu entlassen. Weil die Untersuchungshaft eingerechnet wird, würden zu diesem Zeitpunkt zwei Drittel der Haft abgesessen sein,

Taten als Jugendsünden bereut

"Er bereue seine Taten, sei damals noch sehr jung gewesen und habe vor, seine Zukunft mit einer Arbeit oder Ausbildung in richtige Bahnen zu lenken", zitiert die Richterin den späteren Attentäter in ihrer Begründung: Er wolle bei seiner Mutter wohnen, habe einen Job bei einer Maschinenbaufirma in Aussicht und überlege, die abgebrochene Schulausbildung an der HTL wieder aufzunehmen. Conclusio der Juristin: "Aufgrund des erstmals und mittlerweile massiv verspürten Haftübels, der positiven Entwicklung des Strafgefangenen (...) und des Vorhandenseins eines sozialen Empfangsraums sowie einer Unterkunft" sei davon auszugehen, dass zwei Drittel der Strafe ausreichen, um F. "zu einer gesetzeskonformen Lebensführung" zu veranlassen.

Das ist rechtlicher Standard: Das Gesetz sieht Straferlass vor, wenn anzunehmen ist, dass der Verurteilte dadurch nicht strafanfälliger wird als bei einer vollen Verbüßung. Ein Vorteil: Bei einer vorzeitigen, bedingten Entlassung kann die Justiz eine weiterführende Behandlung und Kontrolle in Freiheit verfügen. Wer seine Strafe hingegen voll absitzt, bleibt unbehelligt.

Genau solche Auflagen hat die Richterin verfügt: Sie setzte eine dreijährige Probezeit fest, in der F. von der Bewährungshilfe und weiterhin vom Verein Derad betreut werden sollte. Derad führt im Auftrag des Justizministeriums Deradikalisierungsprogramm mit Strafgefangenen durch, auch mit F. wurde die Arbeit bereits im Gefängnis begonnen.

Keine Unbedenklichkeitsbescheinigung

Als Unbedenklichkeitsbescheinigung ist die vorzeitige Entlassung folglich nicht zu verstehen: Hätte die Richterin F. für deradikalisiert gehalten, hätte sie keine Fortführung des Programms verfügen müssen. Bei bedingt entlassenen Straftätern bestehe immer Gefahrenpotenzial, deshalb die Auflagen, argumentiert Derad-Leiter Moussa Al-Hassan Diaw und wehrt sich gegen "Schuldzuweisungen": "Derad hat die Person nie als deradikalisiert eingeschätzt. Weder wir noch die Bewährungshilfe haben aber die technischen Möglichkeiten zur Überwachung, wie sie der Verfassungsschutz hat. Wir können nur beobachten, was das Internet hergibt."

Bei ihrer Entscheidung hat die Richterin Derad offenbar nicht direkt konsultiert, zumindest steht davon nichts im Beschluss. Rücksprache gehalten hat sie aber mit dem Leiter der Kremser Strafanstalt, der vom Verein Berichte über den Verlauf der Deradikalisierung erhielt.

Hätte das Attentat – wie Kurz suggerierte – nicht stattgefunden, wenn F. nicht vorzeitig entlassen worden wäre? Wenn nicht in den letzten Monaten im Gefängnis eine jähe Läuterung eingesetzt hätte, dann ist diese Annahme nicht schlüssig. Im Juli 2020 hätte F. seine gesamte Strafe abgesessen gehabt und wäre ohne Auflagen freigekommen – dreieinhalb Monate vor dem Attentat. (Gerald John, 4.11.2020)