Recep Tayyip Gültekin und Mikail Özen waren bei Bürgermeister Michael Ludwig zum Kaffee eingeladen.

Foto: Stadt Wien/PID

Vier Millimeter groß ist der Splitter, der in Recep Tayyip Gültekins Bein steckt, fünf Zentimeter tief drin, sagt er. Dort wird er auch bleiben, das Teil stecke in einem Muskel, eine OP sei zu kompliziert. Gültekin und sein Freund Mikail Özen werden seit dem Terroranschlag in der Wiener Seitenstettengasse als Helden gefeiert.

Sie waren mit Sicherheit nicht die einzigen Helden, aber jene, die wohl am meisten im Rampenlicht standen: Die beiden türkischstämmigen Kampfsportler sollen einer älteren Frau und einem angeschossenen Polizisten geholfen haben, Gültekin wurde dabei selbst verletzt. Einladungen beim türkischen Botschafter und bei Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) höchstpersönlich folgten.

Kaffee bei Ludwig, Anruf von Erdoğan

Doch prompt kam auch Kritik. Denn es wurden Postings publik, die als problematisch bewertet werden. Etwa von den beiden, wie sie den Wolfsgruß zeigen. Es stammt aus dem Jahr 2016 und soll am Wiener Rathausplatz aufgenommen worden sein. Der Wolfsgruß wird seit 2016 vom Innenministerium unter den verbotenen islamistischen und nationalistischen Symbolen gelistet. Ein anderes Foto zeigt Gültekin in einer Uniform mit einem Schriftzug in Orchon-Runen, den die Grauen Wölfe verwenden. In einem Posting vom 19. Dezember 2016 schreibt er, das, was in Berlin passiert sei, tue ihm "überhaupt net leid". Am 19. Dezember 2016 fand der Anschlag am Berliner Breitscheidplatz statt, elf Personen starben dabei.

So drehte sich die Debatte: Waren es etwa nicht nur selbstlose Helden, die da halfen, sondern gar türkische Nationalisten? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (die Namensgleichheit sei laut Gültekins Vater kein Zufall) rief die beiden an und bedankte sich für ihren Einsatz. Ein Video machte in Österreich die Runde, ein anderes, das den Präsidenten zeigt, in der Türkei. So geht Propaganda.

In den sozialen Medien mehrte sich – nicht nur, aber auch in der kurdischen Community – Skepsis gegenüber den beiden Helden. Die Angriffe von Grauen Wölfen auf kurdische und linke Proteste im Juni 2020 sind vielen noch in Erinnerung. "Für viele Kurden ist die Lage gerade umso tragischer, da sie sehen müssen, wie vom türkischen Konsulat rechtsnationalistische Personen zelebriert werden, während Kurden den eigentlichen Blutzoll des Kampfes gegen Islamismus getragen und von der türkischen Seite nur militärische Angriffe erfahren haben", sagt dazu etwa Dastan Jasim vom German Institute for Global and Area Studies in Hamburg – auch sie teilte Screenshots der Postings.

Wehren sich gegen Kritik

Gültekin wehrt sich jedenfalls. Zwar nicht gegen eine mögliche Instrumentalisierung durch die Türkei, sehr wohl aber gegen ein Schubladisierung. "Wir gehören zu keiner Gruppe", sagt er dem STANDARD, "weder zu den Wölfen noch zu Linken." Der Wolfsgruß "interessiert mich nicht", sagt er. Er sei aber auch "nicht schlimm".

Was das Berlin-Posting angeht, so spricht Gültekin heute von einem Fehler. "Jeder ist mal verrückt in seinem Leben", sagt er. Aber er betont: "Ich will nicht, dass es nun heißt, ich wäre rechtsradikal, ein Nazi von Erdoğan." Wer nun Kritik übe, habe nicht verstanden, dass die beiden Leben retten wollten, sagt Gültekin: "Es ging nicht um Muslim oder Christ oder sonst was oder darum, ob du PKK-Mitglied bist oder Kurde. Wir haben versucht zu helfen." Auch der zweite Helfer, Özen, wehrt Kritik ab. "Das ist mir egal, ich weiß, dass ich geholfen habe", sagt er. (Gabriele Scherndl, Laurin Lorenz, 4.11.2020)

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