Nicht nur New York wird bei Don DeLillo dunkel, aber sicher ist das nicht. Es kann ja niemand auf dem Handy nachschauen.

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Wer kennt diese Barrikade nicht? Man denkt angestrengt nach, aber etwas will einem partout nicht einfallen. Das Gehirn rechnet und rechnet. Und plötzlich löst sich der Knoten, und der entfallene Name ist da.

In Don DeLillos neuem Roman Die Stille, mit knapp über hundert Seiten mehr eine Novelle, bildet ein solcher Moment des gnädigen Erinnerns das Vorzeichen für einen weit umfassenderen Systemcrash. Jim Kripps sitzt mit seiner Frau Tessa Berens im Flugzeug von Paris zurück nach New York, als ihnen der Vorname des schwedischen Astronomen Celsius nicht einfällt. Dann, endlich: Anders. "Wenn eine fehlende Information ohne digitale Hilfe auftaucht, verkündet jeder das mit einem Blick in die weite Ferne, in das Jenseits des Gewussten und Verlorenen", schreibt DeLillo.

Leiser Untergang

Es ist eines dieser charakteristischen Manöver des mittlerweile 83-jährigen US-Schriftstellers, das einem alltäglichen Ereignis mit wenig Aufwand einen fantastischen Anstrich verleiht. Die kurz danach eintretende Disruption – um gleich einmal einen Begriff aus dem aktuellen Covid-19-Dilemma ins Spiel zu bringen – kommt ganz leise, wird jedoch wie in einem Katastrophenfilm die Selbstverständlichkeit der modernen Welt infrage stellen. DeLillo zieht den Stecker. Die digitale Infrastruktur bricht zusammen. Beim Super-Bowl-Finale 2022, zu dem sich in einer New Yorker Wohnung eine Freundesgruppe versammelt hat, wird der Bildschirm plötzlich schwarz, Handys sind tot, Aufzüge fahren nicht mehr. Das Flugzeug mit Tessa und Jim rettet sich mit einer Bruchlandung.

Der US-Autor Don DeLillo lässt in "Die Stille" die Datennetze zusammenbrechen.
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DeLillo hat viele seiner Romane, sei es Bluthunde,Mao II oder das Kennedy-Ermordungs-Buch Sieben Sekunden, mit Motiven aus populären Genres angereichert, ohne dann deren dramaturgischer Logik zu folgen. Neben Thomas Pynchon gilt er als der US-Autor der Paranoia schlechthin. Doch er löst diese nie auf, sondern benutzt sie als Grundrauschen einer vom Kapitalismus entzauberten Welt. Klassische Deutungsmodelle taugen nicht mehr, die Helden laborieren an "agency panic", aus der Erkenntniskrise resultiert die des Handelns. Und die Zeichen laufen in die Irre – all das weist im Grunde bereits auf die postfaktische Gegenwart voraus.

Die Stille ist zwar Science-Fiction, insofern das Buch im Jahr 2022 angesiedelt ist, allerdings nur einen Gedankensprung vom prekären Jetzt entfernt: Corona wird schon kurz benannt, geschrieben wurde der Roman allerdings bereits davor. Anstatt in die Breite zu gehen und sich lange mit dem Hintergrund für den Blackout aufzuhalten, zoomt DeLillo in die Wohnung hinein und nimmt Maß für ein Kammerspiel. Max Stenner lebt dort mit seiner Frau Dianne, einer Physikprofessorin im Ruhestand, einer ihrer Studenten, Martin Dekker, ist zu Besuch, Jim und Tessa kommen verspätet hinzu.

Sätze wie Mantras

Ist es ein Cyberkrieg der Chinesen? Sind es Außerirdische? Die Scherze werden rasch welk. DeLillo will auf die Substanz hinaus: Ohne die Technologie, die den Erkenntnishorizont für die Charaktere garantiert, scheint auch der semantische Zusammenhang in den Gesprächen brüchig zu werden.

Geteilte Erinnerungsfragmente liefern noch etwas Halt. "Jesus von Nazareth" wird wie eine Beschwörungsformel ins Spiel gebracht. Doch auch das Beharren auf Wissen, Martins solipsistisch wirkender Rekurs auf Einsteins Relativitätstheorie, erscheint manisch: Die soziale Ordnung ist gefährdet, wenn sich die Sätze nur wie Mantras aneinanderreihen. "Was machen Menschen, die in ihren Telefonen leben?"

Mehr als Medienkritik

Man sollte das nicht mit simpler Medienkritik verwechseln. Im minimalistischen Setting des Apartments, dieser Blackbox, verlieren die Figuren all ihre Gewissheiten. Der Totalausfall wirkt sich so radikal aus, dass sie beginnen, ihre eigene Subjektivität infrage zu stellen. Sie regredieren, erinnern an Zombies, wenn sie sich mit dem Blick auf den schwarzen Bildschirm nur noch an wenige Gedanken und Praktiken erinnern.

Der US-Autor Joshua Cohen hat in seiner Kritik in der New York Times darauf hingewiesen, dass DeLillo Zitierfehler begeht – absichtlich, wie er vermutet. Es gibt nur noch ziellose Intensitäten, Stumpfsinn, Vergessen. Die Stille ist ein Buch über den Untergang einer Menschheit, die zu spät realisiert, dass sie sich den falschen Götzen anvertraut hat – eine scharfsichtige Satire, kurz vor dem Übergang ins posthumane Zeitalter. AI, übernehmen Sie! (Dominik Kamalzadeh, 5.11.2020)