Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sah schon bald nach dem Anschlag einen folgenschweren Fehler der Justiz.

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Die offizielle Botschaft ist klar. Der Anschlag von Montagabend ist gerade erst passiert, die Ermittlungen dazu sind noch im Gange. Es sei also zu früh für politische Konsequenzen aus dem Attentat. Hinter den Kulissen macht aber vor allem die ÖVP Druck für eine besonders rasche Reform des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT).

Und auch andere Themen dürfte die Volkspartei als Reaktion auf den Anschlag vorbereiten: "Es ist etwas im Köcher, aber das ist noch nicht spruchreif", sagt jemand aus dem türkisen Regierungsteam. Die Probleme werden dort eher aufseiten der Justiz gesehen, also im Metier der Grünen. Die Reaktionen auf die Tat vom Montag spalten die Koalition schon jetzt.

Stimmung gegen frühzeitige Entlassung

Gegen die vorzeitige Entlassung aus der Haft unter Bewährungsauflagen machte sogar der Kanzler selbst Stimmung – auch wenn Innenminister Karl Nehammer (ebenfalls ÖVP) am gleichen Abend sagte, es sei "überhaupt nicht die Zeit, wechselseitig mit dem Finger aufeinander zu zeigen".

Man müsse sich die Frage stellen, ob die Maßnahmen aufseiten der Justiz so funktionieren, wie sie das sollten, sagte der Sebastian Kurz am Dienstag im ORF. "Die Entscheidung, dass der Täter freigelassen wurde, war definitiv falsch mit dem heutigen Wissen", erklärte Kurz. Wäre der spätere Täter nämlich nicht vorzeitig aus der Haft entlassen worden, "dann hätte dieser Terroranschlag so nicht stattfinden können", sagte Kurz.

Justiz verteidigt Praxis

Das ist allerdings nachweislich falsch, weil der Täter regulär im Juli entlassen werden hätte sollen (Mehr dazu: Warum der Wien-Attentäter vorzeitig aus der Haft entlassen wurde). Die von der grünen Ministerin Alma Zadić geführte Justiz verteidigte die Praxis der frühzeitigen Haftentlassung am Dienstag in einer Aussendung: Das gesetzlich festgelegte Vorgehen sei "kein Akt der Begünstigung des Täters, sondern Mittel zur Resozialisierung", weil die Ex-Häftlinge so weiterbetreut werden können, richtet man dem Kanzler und anderen Kritikern aus. Die Rückfallquote bei früher Entlassenen sei auch deutlich niedriger.

Wenig Konfliktpotenzial zwischen Türkis und Grün dürfte es dagegen bei der schon länger angekündigten BVT-Reform geben. Die Türkisen wünschen sich hier eine gänzlich neue Struktur für die Behörde, mehr parlamentarische Kontrolle und ein strengeres Aufnahmeprozedere für neues Personal. Unabhängig davon, ob die Aufarbeitung des Anschlags handfeste Verfehlungen des Verfassungsschutzes zutage bringt, wird die ÖVP hier wieder Druck machen. Der grüne Widerstand dagegen dürfte sich in Grenzen halten.

Allerdings fürchten manche Grüne nun eine türkise Überwachungsoffensive – Stichwort Bundestrojaner. Und: Der Anschlag könnte auch wieder die im Regierungsprogramm verankerte Präventivhaft aufs Tapet bringen. Die Grünen haben der Idee, Gefährder vor Begehung einer Tat einzusperren, zugestimmt – unter Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorschriften. Realpolitisch war das Thema bisher versandet. Nun könnte es wieder aktuell werden.

Nicht die Zeit für Debatte

Der grüne Sicherheitssprecher Georg Bürstmayr sagt im Gespräch mit dem STANDARD, nun sei nicht die Zeit für die Diskussion politischer Reformen: "Im Schock soll man in der Politik tunlichst möglichst wenig machen", sagt der langjährige Anwalt. "Gerade in diesem Bereich braucht es Besonnenheit." Man müsse nun der Polizei die Chance geben, den genauen Tathergang zu rekonstruieren, und "wenn wir ein vollständiges Bild haben, ist die Zeit für Vorschläge".

SPÖ und Neos haben für Mittwochnachmittag den Nationalen Sicherheitsrat einberufen – und angekündigt, Innenminister Nehammer mit drängenden Fragen zu konfrontieren. (Sebastian Fellner, 4.11.2020)