Sebastian Kurz hatte, wie es seine Art ist, eine eingängige Erklärung parat. Wäre der spätere Attentäter im Dezember 2019 nicht aus dem Gefängnis entlassen worden, sagte der Kanzler im ORF, "hätte der Terroranschlag so nicht stattfinden können". Als allgemeine Aussage interpretiert, lässt sich da wenig entgegenhalten – no na: Säße der Mann noch hinter Gittern, hätte er in Wien nicht herumschießen können.

Kurz aber gab eine Antwort auf die konkrete Frage, warum K. F. vorzeitig aus der wegen Verbindungen zum IS verhängten Haft entlassen worden war. In diesem Kontext ist der Satz des Regierungschefs falsch und manipulativ. Denn selbst wenn der Täter seine Strafe voll abgesessen hätte, wäre er bereits im heurigen Juli frei gewesen. Sofern sieben Monaten mehr im Gefängnis keine jähe Läuterung gebracht hätten, wäre die spätere Entlassung also kein Hindernis gewesen.

Kerzen am Tatort des Attentats in der Wiener Innenstadt.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Die Botschaft hinter dieser Tatsachenverdrehung: Die Vorgangsweise der einer grünen Ministerin unterstellten Justiz gehöre intensiv hinterfragt.

Verheerender Einzelfall

Die Kritik aus türkisem Mund ist oberflächlich, sie blendet den Sinn von Strafverkürzungen aus: Während ein Ex-Täter, der das volle Ausmaß abgebüßt hat, aus der Reichweite der Behörde ist, erlaubt die bedingte Entlassung Betreuung und Kontrolle über lange Zeit hinweg. Sicher, im Fall des Attentäters von Wien ist dieses Resozialisierungskonzept kläglich gescheitert, doch das ist noch kein Beleg für ein generelles Systemversagen. Wer weiß, wie viele Jihadisten das nun in Verruf geratene Deradikalisierungsprogramm der Justiz von einer Gewalttat abgehalten hat? Der Erfolg ist schwer messbar.

Natürlich ist ein verheerender Einzelfall Anlass genug, um die Praxis zu überprüfen. Doch die Aufarbeitung darf sich nicht einseitig auf die Justiz fokussieren. Da muss schon auch die Frage gestellt werden, ob denn die Polizei alle Maßnahmen ausgeschöpft hat, um F. im Auge zu behalten. Dass Innenminister Karl Nehammer, ebenfalls ÖVP, nun augenscheinliche Ermittlungspannen vor dem Anschlag eingestand und eine Untersuchungskommission mitträgt, um Polizeifehler aufzuklären, ist ein wichtiger und richtiger Schritt.

Nötig ist aber auch eine Debatte, die liberalen und linken Gegenpolen zur ÖVP Unbehagen bereiten wird: Verfügt die Exekutive überhaupt über ausreichende Mittel, um freigegangene Straftäter aus dem Jihadistenlager zu überwachen? Eine Erweiterung der Befugnisse ist grundrechtlich immer heikel, doch nach einem Terroranschlag wie diesem ist eine Diskussion darüber legitim.

Das Scheitern im Fall F. allein auf die Justiz zu schieben geht hingegen an der Realität vorbei: Auch das beste Deradikalisierungsprogramm wird nie jeden Jihadisten läutern.(Gerald John, 4.11.2020)