Sara Saeed (Bildmitte) hat mit ihrem Telemedizin-Unternehmen in Pakistan großen Erfolg.

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Etwa 100 Millionen Menschen in Pakistan – die Hälfte der Einwohner – sehen niemals in ihrem Leben einen Arzt. Weltweit liegt das Land, was die Zugänglichkeit zum Gesundheitssystem betrifft, auf Platz 154. Und das, obwohl es 200.000 ausgebildete Mediziner gibt. Das Verhältnis von einem Arzt pro 1.000 Bürger, das sich daraus ergibt, entspricht WHO-Mindestempfehlungen und wäre eigentlich nicht schlecht. Doch die Praxis sieht anders aus: 60 Prozent der Medizinabsolventen sind weiblich, und die große Mehrheit dieser Ärztinnen – über drei Viertel – übt ihren Beruf niemals aus. Sie heiraten, bekommen Kinder und bleiben zu Hause.

Auch Sara Saeed, die diese Fakten im Standard-Gespräch erzählt, war eine dieser "Doctor-Brides". Sie schloss ihr Studium 2010 ab und heiratete danach. Bevor sie Mutter wurde, arbeitete sie noch in einer Klinik, zog dann mit ihrer Familie aber in eine andere Stadt – und blieb zu Hause beim Kind. "Ich war von all dem abgetrennt, für das ich die 16 Jahre davor gearbeitet hatte. Das hatte ich mir nie so vorgestellt", blickt sie zurück. "Was mir Motivation gab, waren Telefon-Konsultationen, die ich weiterhin für Patienten meiner früheren Klinik machte."

Einst "Doctor Bride", heute erfolgreiche Unternehmerin: Sara Saeed.
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Bereits 300.000 Menschen betreut

Für Saeed lag in dieser Arbeit eine Idee, die sie zur erfolgreichen Unternehmerin und Pionierin der Telemedizin machen sollte: "Wenn ich Patienten in einer weit entfernten Gemeinde betreuen kann – könnten das nicht alle ausgebildeten Ärztinnen im Land machen?"

Sie wurde zur Mitgründerin von Sehat Kahani, einem medizinischen Netzwerk, das nun bereits 300.000 Patienten helfen konnte. Zentrales Element sind Konsultationen über Videokonferenzen, die per App oder in den 27 Kliniken in ländlichen Gebieten durchgeführt werden. Sehat Kahani hat ein Netzwerk von bisher 1.500 pakistanischen Ärztinnen aufgebaut, 500 davon arbeiten in Voll- oder Teilzeit für das Unternehmen.

Es ist eine Eigenart der pakistanischen Kultur, dass Ärztinnen für den Heiratsmarkt, nicht für den Arbeitsmarkt ausgebildet werden. "Wenn eine Mittelklassefamilie Geld für ein Studium ihrer Tochter hat, ist es der ultimative Wunsch, dass sie Ärztin wird", sagt Saeed. Es erhöht Status und Chance auf eine gute Heirat: "Man möchte, dass der Sohn eine Ärztin heiratet, aber niemand will, dass sie arbeitet."

"Doctor-Brides" und Bevölkerung zusammenbringen

Mit Sehat Kahani hat Saeed, 1986 geboren, es geschafft, mithilfe neuer Technologie die beiden Phänomene – "Doctor-Brides" und unterversorgte Bevölkerung – innerhalb der kulturellen Normen des Landes zu verbinden. In den Kliniken arbeitet man mit Pflegerinnen, die auf dem Land oft die einzige Anlaufstelle bei Krankheit sind. Sie wurden ausgebildet, ihre Behandlungsräume mit Labor- und Diagnoseequipment sowie Computern ausgestattet.

Die Pflegerinnen erledigen die Untersuchung und übermitteln die Daten an die Ärztin, bevor die Konsultation per Videostream beginnt. Ein Notruf ist rund um die Uhr erreichbar. Dort, wo entsprechende Internetabdeckung zur Verfügung steht, ist das medizinische Service auch per App zugänglich. Kunden sind zum Teil Unternehmen, die für eine Gesundheitsversorgung ihrer Mitarbeiter sorgen, zum Teil Bürger, die das marode öffentliche System meiden oder weitab auf dem Land leben. Gerade dort liegen die Kosten des Services weit unter jenen einer Reise in die Stadt für einen Arztbesuch. Besonders stolz ist Saeed, dass 60 Prozent der Patienten Frauen sind.

Sehat Kahani deckt die gesamte Primärversorgung ab. Auch Spezialisten sind verfügbar, nur in Fachgebieten, in denen es "kulturelle Barrieren" bei der Behandlung durch eine Ärztin gibt, kommen Männer zum Einsatz. Ein Teil der Ärztinnen praktiziert auch vom Ausland aus.

Das Potenzial von Saeeds Idee ist enorm. Sie möchte 50.000 Ärztinnen zurück in die Arbeitswelt holen, um 25 Millionen Patienten zu behandeln. Man sondiert auch im Ausland, etwa in Indonesien. Zudem soll sich die Technik weiterentwickeln, um eine "proaktive" Versorgung zu ermöglichen. Das Smartphone könnte etwa dabei helfen, Behandlungen und Medikamenteneinnahme zeitlich besser zu koordinieren. (Alois Pumhösel, 5.11.2020)