Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) gibt erstmals zu, dass der Verfassungsschutz im Vorfeld des Anschlags Fehler gemacht habe.

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Die Pressekonferenz vom Mittwoch zum Nachsehen.

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Wien – Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) gibt sich bei öffentlichen Auftritten gerne als Hardliner, der zur Zuchtrute beziehungsweise Flex greift, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Und er ist recht flott dabei, anderen Seiten Fehler und Versäumnisse vorzuwerfen.

Umso erstaunlicher, was sich Mittwochnachmittag im Festsaal des Palais Dietrichstein-Modena in der Wiener Herrengasse abspielte: Nehammer gab zu, dass die Polizei vom slowakischen Geheimdienst vor K. F. gewarnt worden war – und offenbar die Gefahr nicht erkannt hatte. Um diese Frage zu klären, zeigte sich Nehammer bereit, im danach tagenden Nationalen Sicherheitsrat die Bildung einer unabhängigen Untersuchungskommission vorzuschlagen. Ein Ansinnen, das mit den Stimmen von ÖVP, Grünen und Neos angenommen wurde.

Auch Justizminister Alma Zadić (Grüne) begrüßte die Ankündigung Nehammers, das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) neu aufzustellen. Ihren Angaben zu Folge hat die Staatsanwaltschaft Wien erst nach der Tat davon erfahren, dass der Mörder in der Slowakei versucht habe Munition zu erwerben. Sachte Kritik übte Zadić an der Tätigkeit des BVT. Dieser werde informiert, wenn ein potenziell gefährlicher Mann frei komme und könne dann auch Überwachungsmaßnahmen durchführen.

Patronen für Sturmgewehr

Das ist offensichtlich nicht geschehen. Im Juli 2020 ließ sich der wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilte 20-jährige F. von einem noch unbekannten Mann mit dem Auto nach Bratislava fahren, um dort Munition zu kaufen. Kaliber 7,62 x 39 mm – Patronen, die für ein Sturmgewehr AK-47 Kalaschnikow oder Nachbauten benötigt werden. Er bekam sie nicht, aber offenbar wurden dadurch die Staatsschützer unseres Nachbarlandes auf den jungen Mann aufmerksam.

Das Justizressort von Alma Zadić (Grüne) wurde zuerst kritisiert, jetzt liegt der Fokus der Kritik am ÖVP-geführten Innenministerium.
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Und sie informierten noch im selben Monat ihre österreichischen Kollegen vom im Innenministerium angesiedelten BVT über den Vorfall. "Es ist in der Kommunikation offenbar etwas schiefgegangen", gestand Nehammer nun ein. Denn das BVT habe zwar das ihm untergebene Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT Wien) kontaktiert. Gemeinsam hätten die beiden Behörden dann sogar noch Präzisierungen von ihren slowakischen Kollegen angefordert, schilderte bei dem Pressetermin Franz Ruf, der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit.

"Anfangsverdacht" war vorhanden

Folgen hatte das aber offenbar keine. Obwohl sie möglich gewesen wären, wie Ruf auf Nachfrage bestätigte. Zwar könne aufgrund von Informationen eines ausländischen Geheimdiensts kein Strafverfahren eingeleitet werden, allerdings würde ein "Anfangsverdacht" begründet, dem die heimische Polizei nachgehen könne. Ob F. in der Sache je kontaktiert wurde oder Staatsanwaltschaft und Gericht über die Angelegenheit informiert wurden, wollten Nehammer und Ruf nicht verraten und verwiesen auf die Untersuchungskommission.

Wobei – ob Ermittler F. überhaupt erreicht hätten, steht in den Sternen. Offiziell war der Anfang Dezember bedingt aus der Haft Entlassene bis zu seinem Tod am Montag bei seinen Eltern im Bezirk Wien-Donaustadt gemeldet. Die Polizei ging offensichtlich davon aus, dass er dort auch lebte. Denn in dem dem STANDARD vorliegenden Antrag der Polizei auf eine Hausdurchsuchung bei damals noch zwölf namentlich genannten Verdächtigen findet sich der Hinweis an die Justiz, dass F. in Donaustadt "whft.", also wohnhaft, sei.

Mehr Bewährungshelfer, härtere Strafen, mehr Befugnisse für die Polizei: Wie kann sich die offene Gesellschaft gegen Terror schützen? Darüber diskutierten der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger, der zu Jihadismus forscht, der Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl und die Sprachwissenschafterin Ruth Wodak bei "STANDARD mitreden".
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Wie man mittlerweile weiß, stimmte das nicht, er wohnte bereits mehrere Wochen in Wien-Liesing. Das LVT Wien hat Mittwochnachmittag jedenfalls eine 24-Stunden-Hotline für Hinweise rund um den Terrorakt eingerichtet, erreichbar ist sie telefonisch unter (01) 31 31 0/99 74 80 0 sowie unter lpd-w-lvt-aex@polizei.gv.at.

Einzeltätertheorie durch Videoanalyse erhärtet

Die fast abgeschlossene Auswertung der Mobiltelefonvideos, die dem Innenministerium geschickt wurden, hat die These, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, erhärtet. An dem Anschlag, bei dem fünf Menschen – darunter der Attentäter – getötet und 22 verletzt worden waren, dürfte keine weitere Person als Schütze beteiligt gewesen sein.

Doch Helfer und Mitwisser machen sich auch zu Komplizen. 14 Personen wurden bis Mittwoch festgenommen, darunter auch ein Freund des Attentäters, der schon mit ihm vor Gericht gestanden ist. Hausdurchsuchungen gab es in Wien, St. Pölten und Linz. 48 Stunden lang darf die Polizei die Verdächtigen ab der Festnahme verhören, danach müssen sie entweder freigelassen oder ein Antrag auf Untersuchungshaft gestellt werden – bis zum frühen Abend hatte die Staatsanwaltschaft Wien noch keine derartigen Anträge erhalten, sagt Behördensprecherin Nina Bussek zum STANDARD.

Spur in die Schweiz

Eine Spur führt in die Schweiz: Ein 18- und ein 24-jähriger Schweizer waren schon am Dienstagnachmittag in Winterthur festgenommen worden. Winterthur ist Ausgangspunkt zahlreicher Jihad-Reisen. Die Terrorstaatsanwältin der Schweizer Bundesanwaltschaft, Juliette Noto, erklärte dies mit einem Cluster rund um die An-Nur-Moschee und mit "starken lokalen Leitfiguren".

Die Oberstaatsanwaltschaft Zürich bestätigt, dass der 18- und der 24-Jährige bereits in Terrorverfahren involviert sind. Diese Strafverfahren der Schweizer Bundesanwaltschaft wurden 2018 und 2019 im Bereich Terrorismus eröffnet und sind zurzeit noch am Laufen.

Unklar ist, ob einer der in Österreich und der Schweiz Festgenommenen auch der Chauffeur beim gescheiterten Munitionskauf in der Slowakei war oder F. am Montagabend gar samt Waffen – dabei dürfte es sich um einen Kalaschnikow-Nachbau aus Ex-Jugoslawien, eine Pistole der Marke Tokarew sowie ein weiteres Sturmgewehr mit gekürztem Lauf gehandelt haben – an den Tatort gefahren hat.

Attentäter kam wohl nicht mit der U-Bahn

Denn laut Wiens Landespolizeipräsident Gerhard Pürstl ist F. mit ziemlicher Sicherheit nicht mit der U-Bahn gekommen. Bei der mit einstündiger Verspätung begonnenen Pressekonferenz am Mittwoch erklärte Pürstl, man habe mittlerweile den Großteil der Überwachungsaufnahmen der Wiener Linien ausgewertet. Allerdings müssten auch noch andere mögliche Anreiserouten überprüft werden.

Ebenfalls weiter ermittelt werden muss laut Pürstl noch für das von Innenminister Nehammer bereits zehn Stunden nach dem Anschlag versprochene Zeit-Weg-Diagramm des Angriffs. Das wird allerdings immer übersichtlicher werden. Sprach die Polizei zunächst noch von sechs Tatorten, reduzierte sie die Zahl später auf fünf: Ruprechtsplatz, Morzinplatz, Schwedenplatz, die Ecke Fleischmarkt/Bauernmarkt und der Graben. Letzterer ist deutlich weiter entfernt. Wie ein Insider verrät, entpuppte sich auch eine Sichtung dort als Falschmeldung – es bleiben also vier um den Ruprechtsplatz gruppierte Tatorte übrig. (Michael Möseneder, Michael Simoner, 4.11.2020)