Kein Skispringer hat mehr Einzel-Weltcupsiege als Gregor Schlierenzauer. Sein 53. und bisher letzter Triumph ist fast sechs Jahre her, in der vergangenen Saison war die beste Platzierung des Tirolers ein vierter Platz. Im Sommer wurde Schlierenzauer österreichischer Meister auf der Normalschanze.

STANDARD: Was motiviert Sie jetzt noch, diesen Aufwand zu betreiben?

Schlierenzauer: Man muss dem Spitzensport nach wie vor alles unterordnen. Was mich antreibt, ist wie in jungen Jahren: dass die Sportart an sich unglaublich schön, das Gefühl an sich unbeschreiblich ist. Und dass ich nach wie vor in mir das Potenzial und den Weg spüre, dass das Skispringen das Richtige ist und mich erfüllt.

STANDARD: War diese Motivation in den vergangenen 14 Jahren ohne Unterbrechung da?

Schlierenzauer: Nein, das wäre gelogen. Das ist auch menschlich und normal. Wenn man länger im Spitzensport ist, ist die Luft dünn. Das kostet viel Energie, Skispringen ist noch einmal komplexer oder sensibler als andere Sportarten. Da liegen ein Spitzenerfolg und das Mittelfeld eng beisammen. Es hat Zeiten gegeben, wo ich von der Energie her am Limit war, wo ich mir auch selbst eine Auszeit genommen habe und verletzt war. Man lernt, dass es eben auch eine Kehrseite der Medaille gibt. Aber wenn man auf das große Ganze schaut, ist das das Wunderschöne: was man im Leben eines Spitzensportlers alles so erfährt. Es ist auch eine Lebensschule, die ich nicht missen möchte.

STANDARD: Konnten Sie auch in den schwierigen Momenten anerkennen, dass diese Erfahrungen etwas Wertvolles sein können?

Schlierenzauer: Wenn man mitten drinnen steckt in einer herausfordernden Zeit, ist es für einen selbst immer schlimm. Oft erkennt man erst später, was das Gute dabei ist. In meinem Fall habe ich mir zu dieser Zeit professionelle Hilfe von außen genommen, um für mich aufzuarbeiten, was alles in meinen jungen Jahren passiert ist. Es ist ja sehr viel in sehr kurzer Zeit in hoher Intensität auf mich hereingeprasselt, das muss man erst verarbeiten. Natürlich war es sehr herausfordernd, aber als Mensch habe ich viel mehr mitgenommen als zu Zeiten, in denen ich von Sieg zu Sieg gesprungen bin.

"Es geht darum, ob ich es noch mal ganz nach oben schaffe oder nicht. Das ist mein Ziel, ganz klar."
Foto: APA/EXPA/JFK

STANDARD: Wie ordnen Sie Ihren Staatsmeistertitel vom Sommer ein?

Schlierenzauer: Es ist eine schöne Bestätigung, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Es war doch schon eine Zeit her, dass ich ganz oben gestanden bin. Schlussendlich zählt es natürlich im Winter.

STANDARD: Pusht Sie ein volles Stadion, oder können Sie ohne Fans entspannt hinunterspringen?

Schlierenzauer: Entspannt hinunterspringen ist generell sehr schwierig. Natürlich ist es vor vollen Stadien ganz was anderes, wenn die Fans dabei sind, ist es viel schöner. Aber es ist besser als gar keine Wettkämpfe.

STANDARD: Bereitet man sich darauf spezifisch mental vor?

Schlierenzauer: Es ist eine irre Präzisionssportart, wo der eigene Fokus, die Stille und das Abrufen immer wichtig waren. Aber die Momente, wenn man auf dem Balken sitzt und das Stadion voll ist – das wird fehlen. Zu versuchen, den perfekten Sprung abzurufen – das wird ident sein.

STANDARD: Was geht vom Balken bis zur Landung im Kopf eines Springers vor, findet da normales Denken statt?

Schlierenzauer: Nicht wirklich. Man hat seine Punkte im Kopf, was man tun muss, um die Sportartikel zu bändigen. Es passiert ja alles sehr schnell. Man muss hochkonzentriert sein, weil man weiß, dass jeder Fehler fatal sein kann.

STANDARD: Ihr persönlicher Trainer Werner Schuster hat vor circa einem Jahr im STANDARD-Interview gemeint, er habe Ihr Denken sortieren müssen. Wie?

Schlierenzauer: Es ist um Verarbeitung gegangen, um den Ist- und Sollzustand. Und speziell um die Ausführung, um das technische Leitbild, wo ich wieder hinmuss. Das muss man tagtäglich üben wie einen Tennisschwung, wenn man da gewisse Dinge umstellt, braucht das Zeit. Ich denke, dass ich da von der Idee her gut auf dem Weg bin – aber das ist keine Garantie, dass ich es auch sehr gut umsetzen kann. Die Klarheit im Kopf ist definitiv wieder da, die Motivation auch.

STANDARD: Nehmen Sie sich konkrete, zählbare Ziele vor?

Schlierenzauer: Wenn man meine Karriere mitverfolgt hat, dann geht es schlussendlich darum, ob ich es noch mal ganz nach oben schaffe oder nicht. Das ist mein Ziel, ganz klar – aber ich weiß auch, dass es nicht so einfach ist und oft auch Glück und ein gewisses Momentum braucht. Ich war letztes Jahr knapp dran, und mir ist es nicht gelungen, den allerletzten Schritt zu gehen. Von dem her steige ich heuer auf die Bremse und sage: Wichtig ist, Sprung für Sprung meine Qualitäten umzusetzen.

STANDARD: Vermissen Sie es, der Held der Öffentlichkeit zu sein?

Schlierenzauer: Nein, denn was sind heutzutage Helden? Für mich sind Helden die, die schwere Operationen machen, die Leben retten. Natürlich ist der Sport immer sehr kurzfristig. Was man für sich erreicht, das kann einem keiner wegnehmen. Es gab Momente, in denen ganz Österreich extrem emotional war im Skispringen, das muss man genießen und dankbar sein – aber man darf das nicht überbewerten und muss am Boden bleiben.

STANDARD: Was würde der Gregor Schlierenzauer von heute dem vom 6. Dezember 2014, nach seinem letzten Weltcupsieg, sagen?

Schlierenzauer: Das kann man so nicht beantworten. Man lernt immer dazu, es gibt kein richtig oder falsch, sondern nur Erfahrungen. Jede Erfahrung macht dich stärker. Mir war bewusst, dass irgendwann der Moment kommen wird, wo es nicht mehr für Siege reicht. Jeder entwickelt sich weiter, es gibt Reglementänderungen, schlussendlich bin ich auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut. (Martin Schauhuber, 6.11.2020)