Franz Ruf, Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit und damit oberster Polizist von Österreich.

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Die verpasste Chance, den Attentäter von Wien schon vor der Tat festzunehmen, berührt die konkreten Ermittlungen rund um den Anschlag, bei dem am Montagabend fünf Menschen (darunter auch der 20-jährige IS-Anhänger selbst) getötet und mehr als 20 Menschen verletzt worden sind, nicht. Bis Donnerstagabend wurden laut Staatsanwaltschaft Wien insgesamt 16 Personen festgenommen. Mit weiteren Festnahmen war zu rechnen.

Doch das Eingeständnis von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), dass nach einem Hinweis des slowakischen Geheimdienstes auf den späteren Attentäter in der polizeiinternen Kommunikation "einiges schiefgegangen ist", stellt die Fähigkeit der heimischen Terrorabwehr insgesamt infrage. Auch wenn die Polizei am Donnerstag nicht mehr von einem Versagen sprechen wollte, spricht die Chronologie für sich:

  • Im Dezember 2019 wird K. F. (der spätere Wien-Attentäter, Anm.), er hat eine österreichisch-nordmazedonische Doppelstaatsbürgerschaft, vorzeitig bedingt aus der Haft entlassen. Der junge Mann, der in den Jihad ziehen wollte, aber in der Türkei verhaftet und nach Österreich ausgeliefert worden war, erhält die Auflage, ein Deradikalisierungsprogramm zu absolvieren. Was er dem äußeren Anschein nach auch willig erledigt.

Auch in der Haft war er nicht mit radikalislamistischen Parolen aufgefallen, allerdings soll er hinter Gittern hauptsächlich den Kontakt zu ebenfalls nach dem Terrorparagrafen verurteilten Männern gesucht haben. Was aber alleine durch die Gemeinsamkeit der Religionszugehörigkeit zum Islam keine Überraschung ist. Auch in Strafvollzugsanstalten dürfen sich Muslime natürlich zum gemeinsamen Gebet versammeln.

  • Am 23. Juli 2020 übermittelt der slowakische Geheimdienst dem österreichischen Verbindungsbüro bei Europol den Hinweis, dass zwei Tage davor zwei Personen in Bratislava versucht hätten, "Munition des Typs 7,62 x 39 mm für das Sturmgewehr AK 47 (Kalaschnikow)" zu kaufen. Diese Personen verwendeten dabei laut den Unterlagen einen weißen Pkw der Marke BMW mit österreichischem Kennzeichen, dem Schreiben liegen Fotos aus der Überwachungskamera eines Waffengeschäfts bei.
  • Am 10. September 2020 antworten die österreichischen Behörden den Slowaken wieder via Europol-Büro, dass die Polizei bereits einen der beiden Männer identifiziert habe. "Wahrscheinlich handelt es sich dabei um K. F." Und: "Der Genannte ist der österreichischen Polizei in Zusammenhang mit Terrorismus bekannt."
  • Am 2. November 2020 verübt K. F. in den Abendstunden mit mehreren Schusswaffen den Anschlag nahe der zu diesem Zeitpunkt geschlossenen Synagoge.

Suppe zu dünn

Die Frage ist nun, warum er bei entsprechend dichten Hinweisen darauf, dass er sich bewaffnet hat, nicht vorher aus dem Verkehr gezogen wurde. Wie der Wiener Polizeipräsident Gerhard Pürstl am Donnerstag mitteilte, habe die Korrespondenz mit der Slowakei eine ganze Weile in Anspruch genommen. Außerdem sei die Identität von K. F. durch die von der Slowakei übermittelten Daten nicht hundertprozentig festgestanden. Das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz dürfte also die Suppe als zu dünn eingeschätzt haben.

Die Justiz wurde nach derzeitigem Kenntnisstand jedenfalls nicht informiert. Damit gab es auch keine Meldung bei dem Verein, der für den Deradikalisierungskurs von K. F. zuständig war.

Kommunikation per Europol

Dass die internationale polizeiliche Kommunikation über die europäische Agentur Europol mit Sitz in Den Haag läuft, ist nicht unüblich. Wien und Bratislava liegen zwar keine Autostunde voneinander entfernt, aber Europol ist die Verknüpfungszentrale. Außerdem verfügen die Eurocops über eine eigene Terroranalyseabteilung, die übrigens Peter Gridling aufgebaut hat, bevor er in Österreich das Amt für Verfassungsschutz (BVT) übernahm. Seit wenigen Monaten ist Gridling im Ruhestand. Nach der BVT-Affäre unter Nehammers Vorgänger Herbert Kickl (FPÖ) wird das BVT gerade umfassend reformiert.

Kam der Attentäter der Razzia zuvor?

Zweite Frage: War tatsächlich eine Razzia gegen die radikal-islamisitische Szene geplant und ist der Attentäter dieser zuvorgekommen, wie manche Medienberichte insinuieren? Innenminister Nehammer wollte darauf am Donnerstag keine eindeutige Antwort geben. Nur: Es seien ständig Polizeiaktionen in Planung. Deutlicher wurde Sicherheitsgeneraldirektor Franz Ruf: "Gegen den Attentäter und die bisher 15 festgenommenen Personen war keine Razzia geplant."

Damit scheidet auch die Vermutung aus, dass die schnellen Festnahmen aus dem Umfeld des erschossenen Täters auf Namenslisten dieser Razzia beruhten. Vielmehr bedankte sich Minister Nehammer am Donnerstag eher überraschend beim US-amerikanischen FBI für die Übermittlung wertvoller Informationen. Während Nehammers Statement am Donnerstagnachmittag lief offenbar gerade eine weitere Polizeirazzia – allerdings nicht in Österreich. In welchem Land, wollte der Innenminister aus Rücksicht auf die laufende Aktion nicht sagen. Bestätigt wurden zwei Festnahmen in der Schweiz. Am Freitagvormittag stellte sich heraus, dass die Razzien in mehreren deutschen Städten stattfanden.

Schon vorher Ermittlungen

Bei Redaktionsschluss stand die Entscheidung, ob die in Österreich festgenommenen Verdächtigen in U-Haft bleiben, noch aus. Sie alle sind "einschlägig aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur radikal-islamistischen Szene bekannt", wie es in der Beantragung der U-Haft heißt. Alle verkehrten in Moscheen, die der salafistischen Szene zuzuordnen sind. Gegen mehrere Personen, etwa einen 2002 in Bangladesch geborenen Wiener, liefen schon vor dem Anschlag Ermittlungen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Ermittlungen laufen wegen des Verdachts des Mordes und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Für alle gilt die Unschuldsvermutung. (Theo Anders, Fabian Schmid, Michael Simoner, 5.11.2020)