Das Gedicht Häftlingsnummer 82-128 von Tamar Radzyner ist das wohl schrecklichste und beste Gedicht zum Thema, das mit unerträglicher sprachlicher Schönheit leistet, was Schulausflüge nach Mauthausen nie leisten können.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Vor wenigen Wochen starb mit Ruth Klüger eine der letzten schreibenden Überlebenden der NS-Mordmaschinerie. Eine Schicksalskollegin, die Klüger an Geist, Witz und produktiver Unversöhnlichkeit in nichts nachstand, starb 29 Jahre zuvor.

Nur ein dünnes, von ihrer Tochter Joana Radzyner und Konstantin Kaiser vor drei Jahren im Verlag der Theodor-Kramer-Gesellschaft herausgegebenes Bändchen zeugt von der literarischen Existenz Tamar Radzyners.

Und ohne Scham traue ich mich zu behaupten, dass es eines der wenigen Bücher ist, deren Lektüre man nicht versäumt haben sollte. Wer sich bislang für sarkastisch hielt, wird in Radzyner seine Meisterin finden, wer Lyrik nicht mag, wird sie mögen lernen, wer aber glaubt, Lyrik diene der Erbauung, wird die Gedichte hassen.

Wie der Pole Joseph Conrad schrieb Radzyner, die kommunistische Widerstandskämpferin im Ghetto von Lodz war, drei KZs überlebte und an Antisemitismus und Verbohrtheit des polnischen Staatskommunismus scheiterte, ihr Hauptwerk nicht in ihrer Muttersprache.

1959 emigrierte sie nach Wien. Da sie dort nie heimisch wurde, fand sie ihr Exil in der deutschen Sprache. Dieser aber schenkte sie mehr, als der Ort der Sprache ihr zu geben bereit war. "Nur meine Haut nimmt wahr / den Hauch derer, die hier lebten / nur meine Nerven erspähen / den Tod hinter dem Verputz." (Porzellangasse II)

Erfolgserlebnis Überleben

"Nachdem ich mein größtes Erfolgserlebnis – das Überleben – erreicht hatte", schrieb sie, "versuchte ich, meinen überschüssigen Idealismus mit der politischen Arbeit zu verbinden. Wie die meisten Versuche dieser Art schlug auch dieser fehl. Jetzt lebe ich in Wien als Hausfrau und Mutter und versuche, mir den Psychiater zu ersparen, indem ich meine Ängste in Gedichten niederschreibe."

Was eine falsche Fährte legt, denn ihre Gedichte sind alles andere als um ihr Selbst kreisende therapeutische Akte. Hierbei hielt sie es wie Karl Kraus: "Ich spreche von mir und meine die Sache. Sie sprechen von der Sache und meinen sich."

Für sich allein zu Hause dichtend erschloss sie sich die neue Sprache, ehe sie, einem Inserat folgend, begann, Texte für Georg Kreisler und Topsy Küppers zu schreiben. Kreisler, der vielbewunderte Außenseiter, genießt mittlerweile einen Kultstatus, der es einem Sakrileg gleichkommen lässt, Radzyners Chansons und Gedichte für besser als seine zu halten.

Kreislers Negativität ist die des – zumal kritischen – Unterhalters, der nur so tut, als wäre ihm der Spaß vergangen, aber den Marktgesetzen des Kabaretts nicht entkommt, wenn er sich in kathartische Schwarzhumorigkeit verliert und launigen Reimeffekten nachjagt.

Schrecken der Wiener Normalität

Radzyner ist unterhaltsam, weil sie nie unterhalten will. Sie gefällt, weil sie nie gefällig ist. Der Schrecken ihrer Vergangenheit, der Schrecken der trügerischen Wiener Normalität und der Schrecken der Unversöhnlichkeit ihrer persönlichen Rache unterbanden jegliche Pose. Ihre Autorenposition ist die konzentrierter Wahrhaftigkeit, doch niemals Authentizität, mit der Nachgeborene gerne ihr politisch verbrämtes Bedürfnis nach Tragik und "concentration camp credibility" befriedigen.

"Ich muss überleben, um weiterzugeben / das Ziel ‚Tod den Faschisten!‘ / Den Hass, der mich verbrennt – Ich werde überleben – denn ich bin kein Mensch mehr / Ich bin nur mehr ein Zeuge – ich bin ein Testament." Mit diesen Worten beendet sie Häftlingsnummer 82-128, das – Paul Celan und Ruth Klüger in allen Ehren – wohl schrecklichste und beste Gedicht zum Thema, das mit unerträglicher sprachlicher Schönheit leistet, was ORF-3-Nachmittage mit Auschwitz-Dokus, serielle Kranzniederlegungen und Schulausflüge nach Mauthausen nie leisten können.

Tausende Halbwüchsige provozieren dort jährlich den pädagogischen Auftrag ihrer Lehrer und Lehrerinnen mit Witzchen und Grinsen, doch kraft der Vertrautheit, die uns Tamar Radzyner mit ihrer Lyrik gewährt, ließe sich mutmaßen, dass die Autorin sogar Verständnis für dieses tabubrecherische Bedürfnis hätte.

Gäbe man den Jugendlichen allerdings das obige Gedicht zu lesen, verginge ihnen der Humor oder ließe sich mit Radzyners witzigeren Gedichten sogar in produktivere Bahnen leiten.

Mannigfaltig sind ihre Sujets, völlig falsch wäre die Reduktion ihres Pessimismus auf die Holocausterfahrung, die zumal ihren Blick schärfte für das Fortwesen von Entindividualisierung, durch Lohnarbeit, Konsum oder den Stumpfsinn der Hausfrauen- und Mutterrolle: "Wenn ihr wüsstet, was die Hausfrauen denken / in Waschdünsten und Zwiebelgerüchen, (...) / wenn ihr wüsstet, was beim Staubsaugen sich staut, / wie scharf Küchenmesser sich wetzen ..."

Dämonische Heiterkeit

Tamar Radzyner, "Nichts will ich dir sagen". Gedichte und Chansons. 21,– Euro / 182 Seiten. Lyrikreihe Nadelstiche, Theodor-Kramer-Gesellschaft, 2017

Die einzige Versöhnung, die aus ihren Gedichten spricht, ist jene zwischen Gedanken- und Empfindungslyrik. Doch verweigert sich Letztere bei ihr konsequent dem poetischen Individualismus, denn das Ich, ihres wie das der anderen, ist ein Trümmerhaufen, das sich die Illusion von Kohärenz verkaufen lässt.

Mit ironischer Selbstdistanz beschreibt sie sich als schwärende gesellschaftliche Wunde und erlangt fragile Souveränität in der Verweigerung jeglicher Affirmation. Die dämonische Heiterkeit ihres Pessimismus mochte Rationalisierung ihrer Ohnmacht sein, doch allemal besser als die leichter vermarktbaren Poseure der Entfremdung, die selbst Negativität noch in Kunsthandwerk verwandeln. Ohne Ruhm und ohne Dank hat Tamar Radzyner Dichtung von überzeitlicher Größe verfasst. Entdeckt sie. (Richard Schuberth, 7.11.2020)