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Politisch verharmlost: Der Antisemitismus war nie weg. Das Bild entstand vor der Synagoge in Halle.

Foto: Reuters / Christian Mang

Die Bücher über Auschwitz werden mehr. Auch nach 75 Jahren ist das Thema nicht erschöpft, während aktuelle Studien wachsendes Unwissen über den Holocaust belegen. Verschwindet die Erinnerung, oder lebt sie als Erzählung fort, wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt?

Vorweg, weil man an der Aktualität nicht vorbeikommt: Von welcher "Erzählung" müssten wir sprechen, wenn islamische Ressentiments bis hin zu Terroranschlägen, die nun auch Wien erreicht haben, etwas infrage stellen, was bisher nur rechtsradikale Kreise getan haben? Auf Mohammed-Karikaturen westlicher Zeitungen hat etwa der Iran reagiert, indem er 2006 einen internationalen Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb ausschrieb.

In demselben Jahr fand in Teheran die "Holocaustleugnungskonferenz" statt. Holocaustleugner oder -verharmloser gibt es auch bei uns. In Wien konnte man dieser Tage bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen Transparente sehen, die das Lagertor von Auschwitz zeigten – mit dem entfremdeten Schriftzug "Impfen macht frei".

Müssen wir uns darauf einstellen, dass, was bisher tabu war, nun in alle Richtungen relativiert werden kann? Dazu gehört nicht nur das Unwissen, sondern auch Unverständnis vieler Jugendlicher, die ein Problem damit haben, dass der Holocaust sie etwas angehen soll.

Und selbst politisch denkende Junge fragen, ob es nicht aktuellere Probleme in der Welt gibt. Haben sie ein wenig damit auch recht, oder muss uns das beunruhigen? Und wie lebt die wirkliche Erzählung fort?

Weibliche Perspektiven

Auf dem Buchmarkt ist der Holocaust jedenfalls ungebrochen präsent. Romane und Erinnerungsbücher wie Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte von Jeremy Dronfield (2020), Der Junge, der nicht hassen wollte (von Shlomo Graber, 2018) oder Der Tätowierer von Auschwitz (von Heather Morris, 2018) sind nur einige wenige aktuelle Beispiele erzählender Literatur.

Antonio Iturbe, "Die Bibliothekarin von Auschwitz. Roman nach einer wahren Geschichte". Aus dem Spanischen von Karin Will. 22,70 Euro / 462 Seiten. Pendo, München 2020
Cover: pendo

Und es gibt zunehmend auch die weibliche Perspektive – so hat Heather Morris mit Das Mädchen aus dem Lager (2020) ebenso wie der Spanier Antonio Iturbe mit Die Bibliothekarin von Auschwitz eine Frauengeschichte in den Mittelpunkt gerückt. Gemeinsam ist allen diesen Darstellungen, dass sie als Roman geschrieben wurden, aber als "wahre Geschichten" ausgewiesen sind.

Die Bibliothekarin von Auschwitz basiert auf den Erinnerungen der Überlebenden Dita Kraus, die 1943 nach Birkenau, ins sogenannte Theresienstädter Familienlager, kam, das insofern ein Lager im Lager bildete, als die aus dem Ghetto Theresienstadt überstellten Insassen nicht ins Gas geschickt wurden, sondern ganz bewusst die eigentliche Funktion von Auschwitz verschleiern sollten. Zumindest ein Jahr lang, bis auch das "Familienlager" liquidiert wurde.

Aber in diesem Jahr gab es so etwas wie einen Hoffnungsschimmer und ein kleines Stück "Normalität", denn die Kinder dieses Lagers sollten auch in Auschwitz zur Schule gehen: ein Geheimunterricht, organisiert vom legendären Fredy Hirsch, der sich schon in Theresienstadt um die Kinder und Jugendlichen angenommen hat.

Berührender Stoff

Das einzige Unterrichtsmaterial ist eine aus acht Büchern bestehende geheime "Bibliothek", die von Baracke zu Baracke, von einem Lehrer zum andern gereicht wird. Diese Bücher zu schmuggeln ist Aufgabe der 14-jährigen Dita, die trotz der ständigen Todesgefahr ihre Rolle als "Bibliothekarin" erfüllt.

Zweifellos ein berührender Stoff für einen Auschwitz-Roman, der jedoch ohne große Kunstfertigkeit verfasst wurde und zudem am großen Geschichtswissen leidet. Am Ende wird hier nämlich mehr referiert als erzählt, und es werden Dinge berichtet, die man zwar aus späteren Zeugenaussagen kennt, die aber damals im Lager sicher nicht die Runde machten: Kein Häftling des Sonderkommandos hat etwa ausführlich herumerzählt, was in den Gaskammern und Krematorien vor sich geht. Das alles ist späteres Hintergrundwissen, das aber im Roman ausführlich breitgetreten wird.

Die Folge sind langatmige Dialoge und eine Redseligkeit, die sich auch in Klischees ergeht: Da geistert Mengele durchs Lager, indem er ständig Beethovens Fünfte pfeift, und natürlich gehen SS-Männer in Stiefeln, "die alles zermalmen". Muss man diese längst zu Sprachmustern gewordenen Bilder wirklich bemühen, um die Realität von Auschwitz begreifbar zu machen?

Teil der Unterhaltungsliteratur

Nun wäre es vielleicht nicht gerecht, die Absicht solcher Romane in Zweifel zu ziehen. Auch die Etikette "internationaler Erfolg" am Umschlag ist legitim. Und dennoch ist da die Befürchtung, dass diese Form der Auseinandersetzung mit dem Holocaust ein Teil der Unterhaltungsliteratur werden könnte.

Es ist nun offenbar zum Trend geworden, romanhaft nachzuerzählen, was eine immer dichter werdende Literatur seit Jahrzehnten überliefert. Doch noch immer gilt, dass man das Authentische besser aus erster Hand bezieht. Die Frauen von Birkenau, geschrieben 1945, sind ein solches Beispiel unmittelbar verfasster Darstellungen, die eine ganz originäre Qualität haben, uns nur leider oft allzu spät erreichen.

Seweryna Szmaglewska, "Die Frauen von Birkenau". Aus dem Polnischen von Marta Kijowska. 28,80 Euro / 456 Seiten. Schöffling, Frankfurt am Main 2020
Cover: Schöffing & Co

Die polnische Autorin Seweryna Szmaglewska, die von 1942 bis 1945 Häftling in Birkenau war, hat sich nach ihrem Überleben ein ganz nüchternes Ziel gesetzt: "ausschließlich die Fakten zu nennen". Sie schrieb ihren Bericht, um all ihren Kameradinnen eine Stimme zu geben, wissend, dass die meisten nicht zurückkehren und sich zu Wort melden werden.

Und als hätte sie schon ahnen können, dass Auschwitz einmal zum Stoff für Romane würde, notierte sie im Vorwort: "Es gibt Dinge, die man nicht vergrößern muss."

Nichts gutzumachen

Szmaglewska war eine von zwei Zeugen aus Polen, die bei den Nürnberger Prozessen aussagten, ihre Überlieferung hat allein schon amtliches Gewicht. Ihr Buch ist aber auch ein Stück Literatur, das man als so bedeutsam bezeichnen muss wie Primo Levis 1947 erschienener Überlebensbericht Ist das ein Mensch? – ganz ohne Pathos, ohne den großen Fingerzeig der Geschichte. Seweryna Szmaglewskas Buch ist seither in Polen in 22 Ausgaben erschienen, elfmal wurde es übersetzt.

Dass es 75 Jahre gedauert hat, bis es auch auf Deutsch erscheinen konnte, ist im negativen Sinn bemerkenswert, und es stellt sich die Frage, ob es nicht besser wäre, solche Zeugnisse im Nachhinein zu edieren als Romane über Auschwitz zu verlegen. Szmaglewska hat in insgesamt drei Büchern ihre Erfahrungen im Krieg und im Konzentrationslager verarbeitet und sie war immer bemüht, hinter die berichteten Fakten zurückzutreten.

Zeugnis geben – unter dieser Prämisse stehen all die Dokumente, die heute einen eigenen, fast schon nicht mehr überschaubaren Auschwitz-Kanon ergeben. Und doch bleibt immer noch die Frage, was nach der Shoah kommt.

1945 waren sich hierzulande die Politiker aller Couleur einig: "Österreich hat nichts gutzumachen, weil es nichts verbrochen hat." Damit war eine neue, nachhaltige Erzählung geschaffen, die bis tief in unsere Zeit andauern sollte. In der Nationenausstellung in Auschwitz konnte sich Österreich noch bis vor wenigen Jahren als erstes Opfer des Nationalsozialismus präsentieren. Ein zähes Narrativ, das ein eigennütziger Konsens der politischen Lager damals auf den Weg brachte.

"Unschuldsnarrativ"

Geradezu folgerichtig gehört in diese "Erzählung", dass der 1945 gegründete KZ-Verband anfangs nur politische Häftlinge vertrat – jüdische KZ-Opfer, "rassisch Verfolgte", existierten als Opfergruppe gar nicht und sollten es auch nicht, denn an einer Rückkehr jüdischer Überlebender waren ÖVP und SPÖ als "staatstragende" Parteien nicht interessiert. Das hätte nicht ins Narrativ der Zeit gepasst.

So haben sich die politischen Verantwortungsträger um die Repatriierung der Überlebenden erst gar nicht bemüht, stattdessen haben sie nicht wenig darangesetzt, die Restitution jüdischen Vermögens zu hintertreiben. Nicht einmal zu jenem Mindestmaß an juristischer Verantwortung wollte man sich offenbar bekennen (was heute noch in Ressentiments bestimmter Bevölkerungskreise nachwirkt, die mit "Wiedergutmachung" das Stereotyp von den "geldgierigen Juden" bestätigt glauben).

Barbara Serloth, "Nach der Shoah. Politik und Antisemitismus in Österreich nach 1945". 25,00 Euro / 304 Seiten. Mandelbaum- Verlag, Wien 2019

In ihrem Buch Nach der Shoah spricht die Politologin Barbara Serloth von einem "systemimmanenten Diskriminierungsansatz" bzw. vom "Unschuldsnarrativ", das schließlich fester Bestandteil der österreichischen Identität nach 1945 wurde.

In einem Österreich, in dem niemand Täter war, konnten jüdische Opfer folglich auch keinen Platz haben. 1946 sprach sich Karl Renner entschieden gegen eine mögliche Rückkehr der Juden aus: "Sicherlich würden wir es nicht zulassen, dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierherkäme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen."

Antisemitismus-Ignoranz

Ähnliche Gedanken waren noch in jüngster Zeit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund nicht fremd, als es um die EU-Osterweiterung ging. Nach 1945 aber war die Ablehnung eindeutig antisemitisch motiviert und Teil der österreichischen Erzählung, die so sehr verinnerlicht wurde, dass sie subkutan noch immer fortlebt. Aus dem klassischen Antisemitismus wurde primitiver Fremdenhass, mit dem die FPÖ bis vor kurzem ganz ungeniert ihre Wahlerfolge feiern konnte.

Jetzt mag sich der Fokus verschieben, auch deshalb, weil uns bewusst wird, dass wir dem islamischen Antisemitismus, den es in Österreich zweifellos und teilweise ganz massiv gibt, bisher mit ebensolcher Ignoranz begegnet sind, wie wir das nach 1945 mit dem von den christlichen Religionen und den Nazis ererbten Antisemitismus getan haben.

Weil wir das als "normal" empfanden? Spätestens jetzt ist es das nicht mehr, und diese Problematik – weit über Auschwitz hinaus – muss auch die junge Generation angehen. In der Literatur ist das zwar noch nicht angekommen, aber der Stoff für künftige Romane liegt auf dem Tisch. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 8.11.2020)