Gedenken an die Opfer des Terroranschlags in Wien.

Foto: STANDARD, Hendrich

Verwackelt, unscharf, aber authentisch. Schwupps, hochgeladen aus Facebook oder Instagram auf die eigene Webseite, den eigenen Web-TV-Kanal. Und schon ist der Schaden angerichtet. Was denkt sich eigentlich ein Redaktionsmitglied dabei, wenn er oder sie derart verantwortungsvergessen der brutalen Realität hinterherhechelt? Ein Adrenalinstoß kann dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden, die Chefredaktion schon.

Was sich in der Terrornacht von Wien auf den digitalen Plattformen und den Webseiten der Krawallmedien abgespielt hat, bringt das Fass zum Überlaufen. Da fallen Schüsse in der gutbesuchten und belebten Wiener Innenstadt. Menschen schreien, rennen um ihr Leben, werden getroffen, verletzt, vier sterben. Auf Smartphones konservieren Betroffene und Passanten tausendfach das Gräuel.

Die digitalen Plattformen laufen sofort über. Bilder und Videos gehen viral. Das ist deren Existenzzweck. Innert Sekunden verbreiten die Follower das Material, es landet sofort auch auf den Newsdesks der redaktionellen Medien. Dort weicht der Schock schlagartig hektischer Betriebsamkeit.

Und in diesem Moment tritt glasklar wie selten zutage, was Qualitätsjournalismus von Krawallmedien unterscheidet.

Während die einen losrasen, ins Auto springen, telefonieren, kurz: zu recherchieren beginnen, fummeln die anderen mit der Maus im Internet und laden auf ihre Website, was die digitalen Plattformen hergeben. Besonnene Krawallmacher verpixeln noch notdürftig Gesichter. Andere verlieren keine Zeit und stellen unbearbeitet zur Schau, was ihnen über den Bildschirm flimmert.

Redaktionelle Gefährder

Alle beschriebenen Journalistinnen und Journalisten können unverzügliches Handeln für sich in Anspruch nehmen und damit die Erfüllung ihrer Informationspflicht. Doch das kann nur der Beginn des Berufsverständnisses sein. Nur grundlegend fehlgeleitete journalistische Identität strebt danach, bedingungslos und unter allen Umständen Erster zu sein. Journalismus ist vielmehr Überprüfung, Einordnung und das Streben nach Verständnis für Zusammenhänge. Auch und gerade in Stressmomenten. Wer das nicht versteht, möge bitte unverzüglich den Beruf wechseln und zum Beispiel Influencer werden. Oder Formel-1-Pilot.

Wer nicht begreift, dass die digitalen Plattformen Facebook, Twitter, Instagram, Whatsapp, Telegram, und wie sie alle heißen, einer grundlegend anderen Logik folgen als redaktionelle Medien, muss als redaktioneller Gefährder gelten. Und solche Irrlichter sind in der Terrornacht in Österreich aufgeflammt.

Man kann über Fluch und Segen der digitalen Plattformen geteilter Meinung sein. Sie sind aber unstrittig seit über einem Jahrzehnt zur festen Größe im öffentlichen Diskurs geworden. Langsam beginnen wir, die Flut an Information, Unterhaltung, Lügen und strategischen Unwahrheiten zu differenzieren. Eine oft mühevoll erlernte Skepsis bewahrt uns davor, alles zu glauben, was diese Flut an Strandgut so anschwemmt. Für professionelle Informationsarbeit sind die Plattformen unverzichtbar. Von der Verarbeitung solcher Informationen als Redaktions-Input kann ein hoher Grad an Professionalität erwartet werden.

Plattform-Defizite

Redaktioneller Output unterscheidet sich von dem Plattform-Strandgut durch die Verarbeitung. Das Prinzip von Check, Re-Check, Double-Check ist die Mindestanforderung. Streunende Bilder, Videos und Texte der Plattformen aber integral online zu stellen, bricht mit allen Regeln der journalistischen Kunst. Gerade Redaktionsmitgliedern muss bewusst sein – und ist zweifellos auch bewusst –, dass die digitalen Plattformen trotz ungebremstem Gewinnwachstum viel zu wenig in die Faktenprüfung investieren, und jedenfalls in Überraschungsmomenten zu keinerlei effektivem Factchecking fähig sind.

Dass die Plattformen mehr widerwillig als enthusiastisch damit begonnen haben, ihre Verantwortung wahrzunehmen, hat Desinformationsschleudern wie den noch amtierenden US-Präsidenten erzürnt. Seine Ausfälligkeiten sind unterdessen auch für Twitter und Facebook berechenbar und die beiden leisten durch die Kennzeichnung halbherzig (vor allem Facebook) einen Beitrag zu einer zumindest rudimentären Diskurskultur. Ein Anschlag aus heiterem Himmel hingegen überfordert die Crisis-Response-Kapazitäten.

Ruf nach Konsequenzen

Weil das alles klar auf der Hand liegt und jedem mittelmäßig reflektierten Plattform-User bekannt ist, wiegt der redaktionelle Verstoß umso schwerer. Und hier ist die potenzielle Verletzung von Persönlichkeitsrechten noch gar nicht angesprochen.

Wenn die Krawallmedien schon nichts gelernt haben, was lernt die Zivilgesellschaft? Einen Sonnenstrahl in diesen finsteren Zeiten sendeten, ohne lange zu zögern, die Großverteiler Spar und Rewe (unter anderen Billa, Bipa, Merkur) zusammen mit anderen großen Werbeauftraggebern. Sie stornierten ihre Werbeschaltungen in diesen Medien. Und die Medienaufsichtsbehörde Komm Austria kündigte Konzessionsverletzungsuntersuchungen an. In nur drei Tagen unterzeichneten mehr als 67.000 Menschen die Petition "mein.aufstehn.at" für eine Streichung der öffentlichen Förderung für "oe24".

Das Verhalten der globalen digitalen Plattformen lässt sich vom kleinen Österreich aus nicht steuern. Wir sind als User selbst für unseren kritischen Blick verantwortlich. Wenn aber redaktionelle Medien um des Clickbaits willen alle Verantwortung fahren lassen, dann ist medienpolitisches Handeln dringlich. Ressortzuständig ist der Bundeskanzler selbst. Lassen Sie hören, Herr Kurz! (Josef Trappel, 6.11.2020)