Ein Platz in Neapel, wo auch Ferrantes neuer Roman spielt.

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Es ist wieder alles da im neuesten Ferrante-Roman Das lügenhafte Leben der Erwachsenen: die Stadt Neapel in einer tragenden Rolle, Frauenfreundschaften, Bildung als (zumindest vermeintlicher) Ausweg aus dem Sumpf der eigenen Herkunft und dazu ein Haufen machoider Männer.

Wieder ist es eine Frau, die diese Geschichte erzählt, in diesem Fall ein Teenager. Elena Ferrante, die unter einem Pseudonym schreibt, hat 2016 mit der vierteiligen Neapel-Saga Meine geniale Freundin einen veritablen Hype und das sogenannte #FerranteFever ausgelöst. Der Slogan wurde mittlerweile in #FerranteForever umgetauft, und das ergibt durchaus Sinn.

Denn Ferrante wird sich, das zeigt auch ihr neuestes Werk wieder eindrucksvoll, in dieser Liga wohl noch eine Weile halten. Das lügenhafte Leben der Erwachsenen ist kein müder Abklatsch der Erfolgssaga, nicht einfach nur eine neue Anordnung der altbekannten Versatzstücke. Es ist ein eigenständiger Roman, der neue Motive etabliert und, trotz der zahlreichen Ähnlichkeiten, erstaunlich wenig mit seinen Vorgängern zu tun hat.

Nahe an der Gegenwart

Die Handlung spielt in den 1990er-Jahren, was schon einmal kein blöder Schachzug ist, weil man so zwar bereits einigermaßen nahe an der Gegenwart ist, sich aber noch nicht mit ständig piepsenden Handys, Social Media und internetsüchtigen Jugendlichen herumschlagen muss.

Und man kann mehr Gewicht auf die Pubertät der Protagonistin, der 13-jährigen Giovanna, legen. In der Neapel-Tetralogie waren die beiden Hauptfiguren zwar auch einmal in diesem Alter, doch dort stand die harte Nachkriegszeit im armen Rione einer allzu großen Konzentration auf das Phänomen Pubertät im Wege.

Hier ist für Selbstzweifel, die Entdeckung des und den Hader mit dem eigenen Körper, mit der Welt der Erwachsenen noch wesentlich mehr Raum. Das liegt auch daran, dass Giovanna in einem wohlhabenden Teil der Stadt aufwächst: Während die Tetralogie im Rione beginnt, was eigentlich nur "Stadtteil" bedeutet, wohnt Giovanna nun im Rione Alto, der so heißt, weil er sich am höchsten Punkt des Hügels Vomero befindet. Oben und unten, darum geht es hier.

Reklameartige Perfektion

Giovanna ist oben. Ihre Eltern sind schön, gebildet und eloquent, der Vater unterrichtet Geschichte und Philosophie, natürlich am "namhaftesten Gymnasium Neapels", er ist "ein in der Stadt ziemlich bekannter Intellektueller", und "beliebt bei seinen Schülern" ist er auch. Die Mutter unterrichtet Latein und Griechisch an einem nicht ganz so namhaften, aber immerhin an einem Gymnasium. Nebenbei liest sie Liebesromane Korrektur.

"Sie sahen toll aus, und sie liebten sich seit ihrer Jugend", erzählt Giovanna uns zu Beginn, aber es fängt, wen wundert’s bei all dieser reklameartigen Perfektion, schnell an zu knirschen im Gebälk.

Wie Ferrante das macht, mit einem harmlosen Satz, der schließlich alles, auch die Stadttopografie, von oben nach unten kehrt, das ist schon ziemlich große Klasse. Ein Satz. "Sie kommt nun ganz nach Vittoria." Das sagt Giovannas Vater, und er meint damit seine Schwester, mit der er einst im armen, proletarischen Viertel Pascone aufwuchs.

Unten. Hier ist es schmutzig, ungeordnet, die Leute sprechen vulgären Dialekt, in dem sie sagen, was sie fühlen und denken. Oben, im feinen Viertel, dem geordneten Haushalt von Giovannas Eltern, wird alles kontrolliert, die Gefühle, die Worte. Gelogen aber, das lernt Giovanna bald, wird hier wie dort.

Schau genau hin, fordert ihre Tante sie auf, als sie diese endlich kennenlernt. Und das macht sie. Was sie sieht, gefällt ihr nicht unbedingt: Der Vater hat seit Jahren eine Affäre mit der Mutter ihrer besten Freundinnen, verlässt die Familie, zieht zu seiner Neuen. Die Mutter fügt sich auf eine devote Art in dieses Schicksal, die Giovanna nicht gefallen kann.

Wandlerin zwischen den Welten

Sie wird zu einer Wandlerin zwischen den Welten, zwischen unten und oben, zugleich immer ihre eigenen Gedanken, ihren Körper mit sich herumtragend, der ihr nicht erst seit dem verhängnisvollen Satz wie eine Zumutung erscheint: die Brüste zu auffällig, die Nase, die immer länger wird, "und wie dunkel waren die Löcher zwischen der Nasenscheidewand und den Nasenflügeln"!

In den Worten ihres Vaters hört sie heraus, wie sie sich ohnehin fühlt: "Giovanna ist hässlich." So pubertär und kindisch das klingt, aber dieses Mädchen ist nicht lächerlich. Eher hat man das Gefühl, dass sie, die so genau hinschaut, so viel nachdenkt über die Dinge, mehr versteht und durchschaut als alle anderen.

Sie verliebt sich in eine jüngere Version ihres Vaters: einen jungen Mann aus dem Pascone, der nun an der katholischen Universität in Mailand alle in seinen Bann zieht. Aber auch ihn wird sie am Ende durchschauen – und mit ihm die hergebrachten Vorstellungen von (heterosexuellem) Sex, Liebe, Beziehungen.

Sie will sich als mehr fühlen "als nur wie ein niedliches oder sogar sehr schönes Kuschelhäschen, mit dem ein Mann mit großen Gedanken zum Zeitvertreib ein bisschen herumspielen kann". Worum es am Ende geht in diesem Buch, das ist nicht die Pubertät, das ist die Emanzipation einer jungen Frau. (Andrea Heinz, 8.11.2020)